„Don’t recognize me“, Hanna Hegenscheidt © Dieter Hartwig

Wohlig wackelnde Welten

Die Tanznacht Berlin 2016

Seit dem Jahr 2000 ist die Tanznacht Berlin ein Format zwischen Leistungsschau und Selbstvergewisserung. Anfangs eine lange (Winter-)Nacht des Tanzes „made in Berlin“, ist die Tanznacht seit 2006 ein kuratiertes Festival von, für und mit Berliner Künstler*innen. 2008 zog die Biennale von der Akademie der Künste in die Uferstudios, wo sie 2012 in den Sommer verlegt wurde und an das internationale Festival Tanz im August andockte. Die diesjährige Ausgabe verantwortete die Dramaturgin und Kuratorin Silke Bake: drei Tage zeitgenössischen Tanz in 23 Veranstaltungen, bei größter Sommerhitze in den Uferstudios.

I. Gefährt*innen

Wer mit wem? Ob Techtelmechtel oder Weltpolitik, Kunstprojekt oder Joint Venture – wer mit wem zugange ist, scheint stets von großem Interesse. Einen Begriff aus der Wortwolke zum Miteinander hat die Kuratorin und Dramaturgin Silke Bake auch als Motto für ihre Ausgabe der Tanznacht Berlin ausgewählt: Gefährten. Etymologisch gesehen Mitreisende und Wahlverwandte, sind ihre Gefährten laut Programmbuch „Menschen und Dinge, mit denen man für eine bestimmte Zeit ein Interesse teilt“. Harmonisch, aber unverbindlich klingt diese Deutung. Sie lenkt den Fokus auf den Nahbereich und ignoriert die bellizistisch-ökonomischen Dimensionen des Begriffs in Synonymen wie Kamerad, Genosse, Sozius.

Passt das Gefährtentum mit seinen maskulinen Ausdünstungen wirklich zum queer geprägten zeitgenössischen Tanz? Wie auch immer, ich nehme das Motto (in seiner spielerischen) Komponente auf und frage zunächst: Wie reflektieren die Künstler*innen der Tanznacht Berlin den Begriff?

Zu einem skizzenhaften, verschwörerisch wispernden Duett bittet Alice Chauchat ihre Kollegin Louise Trueheart. In Samthosen und silbrig-goldenen Organza-Capes zelebrieren die beiden Performerinnen mit Gedichten von William Carlos Williams und Emily Dickinson eine freundschaftlich-innige Empfindsamkeit. Ihre Bühnenpräsenz ist sensibel, dialogisch, von sanfter Selbstironie und unaufgeregtem Feminismus.
Durational-Performance goes Dada-Punk, so lässt sich das Geschehen im Seminarraum gegenüber zusammenfassen. Das Duo Beide Messies, bestehend aus dem Tänzer und Songwriter Andreas A. Müller und dem Cellisten und Komponisten Bo Wiget, lädt ganztags zur Begegnung in eine höhlenartige (und am heißesten Tag des Jahres schier unbewohnbare) Raumkonstruktion voller Krawatten. Dort feiern sie ihr Miteinander mit einem musikalischen Stuhlkreis und gemeinsamem Brotbacken – Kumpane als Brotgenossen: cum pane.

Anarchisch in ihrer Zweisamkeit ist auch die Dauer-Performance von Sheena McGrandles und Claire Vivianne Sobottke, „Bounty“. Unter vollem Körper- und Materialeinsatz gestalten die beiden Performerinnen im Verlauf von vier Stunden ein Studio zur Erlebnislandschaft um. Das ist schräg und rührend, verlangt in seiner epischen Breite aber eine Immersion, die ich nicht leisten kann: Die Zeit drängt, der Sichtungsplan ist vollgestopft.

Unvermeidbar bei einem auf Überforderung basierenden, verdichteten Festival wie der Tanznacht, verpasse ich einen wesentlichen Teil der Formate, die den Gedanken des Gefährtentums weitertragen: Thomas Lehmens intime Zeltgespräche über seine Reisen mit je zwei, drei Besucher*innen oder die „Letters to Dance“, zu deren Performance deufert+plischke (die Lebens-, Arbeits- und Denkgefährten Kattrin Deufert und Thomas Plischke) drei Choreograf*innen eingeladen haben.

Aber weil sich 23 Veranstaltungen nicht auf einen Begriff bringen lassen, treten bald andere Stränge des Tanznacht-Programms in meinen Fokus.

II. Vielfalt/Zugänge

Wäre die Berliner Tanzszene auf der Suche nach einem Zunftzeichen, müsste es ein Symbol für Vielfalt sein. Vielbeschworen ist diese Vokabel für die hochgradig ausdifferenzierte hiesige Tanzszene. Die Tanznacht bildet die Diversität zeitgenössischen Tanzes mit einem weiten Spektrum von Veranstaltungsformaten ab: Installationen, Bühnenstücken, Dauer-Performances, Gesprächen.

Vielfältig wie die Formate ist auch die Zugänglichkeit des Gebotenen. Familientauglich ist „TITLE“, das Objekttheater von Clément Layes, der gemeinsam mit dem Musiker Steve Heather Alltagsdinge und Instrumente in Bewegung versetzt. Mittels Seilzügen oder Scharnieren kreiert Layes Schwebe-Balken oder klappernde Roll-Stühle und verleiht den Dingen (fast) ein Eigenleben. Das ist unmittelbar eingängig und mitunter sehr komisch. Fundiertes Wissen um die Performancegeschichte hingegen setzt Alexandre Achour mit „Speaking about the ghost“ voraus. Im Dunkeln berichten körperlose Stimmen von längst vergangenen partizipativen Kunstereignissen, ohne diese zu benennen – ein Rätsel für Eingeweihte, eine hermetische Séance.

Müssen Tanzproduktionen tour- und somit anschlussfähig sein, fragt sich später meine Kollegin Astrid Kaminski (die Co-Tanzschreiberin) beim Gang über den Hof. Nicht überall wird der Exportschlager Berliner Tanz gleichermaßen goutiert; die Szene produziert mitunter für die Szene. Mijke Harmsen vom tanzhaus nrw aus Düsseldorf sieht gerade darin die Chance, auch Randständiges, Extremes zu produzieren. Das ist ein guter Gedanke, meine ich: Grundlagenforschung im und für den Tanz.

III. Worte

Grundlegend wie die künstlerische Forschung ist auch die sprachliche Verfasstheit des zeitgenössischen Tanzes. Mitunter hat man den Eindruck, dass der Tanz dem Sprechtheater an Innovationskraft hier in Berlin seit einiger Zeit den Rang abläuft. Diskursgestählte Hochschulabsolvent*innen setzen Sprache als selbstverständliches Gestaltungsmittel ein, und performance-affine Choreograf*innen wie Antonia Baehr operieren seit Jahr und Tag an der Schnittstelle zum Theatralen. Diese Begegnung von Wort und Bewegung würdigt die diesjährige Tanznacht mit etlichen Programmpunkten.

Diego Agulló hat Videointerviews mit knapp dreißig Tanzschaffenden geführt (https://interplayberlin.wordpress.com/), um dem Berliner Tanz die Temperatur zu fühlen. Während der Tanznacht lädt er Kolleg*innen im Sofaambiente zu Gesprächen über Gesehenes.

Vier Sprechakte auf der Bühne versammelt „SAY SOMETHING“, ein Format von Philipp Gehmacher, in dem die Künstler*innen ihren „Gedanken Stimme und Gestalt“ geben, wie es im Programmheft heißt. Siegmar Zacharias verbindet Kunst und Ökologie: Sie weigert sich, weiterhin alles zu schlucken, und so tropft sehr bald der Speichel auf ihre perfekt gebügelte Seidenbluse, während sie äußerlich unbewegt fragt, wer die (Körper-, Kapital-, Gedanken-?)Ströme kontrolliert. Auch Jeremy Wade räsoniert über die Welt am Abgrund und die konsumistische Mittelklasse, während Agata Siniarska, theatral heulend, versucht, einen Affekt auf ihr Publikum zu übertragen, und Antonia Baehr die Stimmen ihrer verschiedenen Persönlichkeiten ein tantiges Global English sprechen lässt. Im Vorhinein hatte ich hier eine komplette Premiere erwartet, ein auch eigenständig rezensierbares Ereignis – das Ergebnis lässt mich eher schulterzucken.

Körperlich ergreifend (auch für die Zuschauer*innen) wird Sprache in anderen Produktionen: Begüm Erciyas und Matthias Meppelink haben für „Voicing Pieces“ drei Sprechstationen errichtet, futuristisch geformte Minitheater für eine*n Performer*in. Kopfhörer auf, in die schwarze Kabine ducken: und dann muss man spontan das Skript rezitieren, das in der Kapsel ausliegt. Man erzählt sich von einer belebten Piazza und einem trinkend-tränenreichen Schriftsteller, ventiliert über den Weg der Stimme durch den Körper oder zählt von 1 bis 8, um mit dieser Zahlenfolge, die per Kopfhörer wieder zugespielt wird, den folgenden Score zu rhythmisieren.

Wie ein dialogbetontes filmisches Genre aus Körperbewegungen emaniert, führt Hanna Hegenscheidt in „Don’t Recognize Me“ überzeugend vor: Douglas Sirks Melodram „Imitation of Life“ hat sie in kurze Sequenzen atomisiert, und in der Überdeutlichkeit eines Kopfruckens oder Kinnreckens werden die Manierismen einer psychologischen Narration ansichtig. Ein Highlight und eine Produktion, die mittels Tanznacht zu Recht noch einmal auf die Bühne gehoben wird.

IV. Hybride

Wie Hegenscheidt zwischen Sparten und Genres wandelt, so ist der zeitgenössische Tanz insgesamt mit dem Auflösen von Trennendem wie (Körper-)Grenzen befasst. Interessant ist daher der Strang im Tanznacht-Programm, der das oder die Hybride erkundet.

Jared Gradinger hat im Hof der Uferstudios über Monate hinweg einen „Impossible Forest“ entstehen lassen, einen Hybrid aus toten Baumstämmen im Betonsockel und lebendig blühenden Pflanzen in der Erde drumherum. Dieser Garten-Wald verändert die Anmutung der Uferstudios, die als Industriearchitektur und Tanzstudio selbst ein Zwischending sind – ins Liebliche, als Performer*innen, Publikum und ein laubbekränzter Kinderchor einen ersten Pfad durchs Grün bahnen, ins dräuend Romantische bei Dunkelheit, in ein Memento mori, wenn man den Kopf hebt und in die abgestorbenen Äste blickt. Dieses Community-gepflegte „Natur-Kultur-Kontinuum“ spielt mit unseren jahrhundertelang eingeübten Emotionen.

Sachlich-neutral, fast steril inszeniert sich demgegenüber Colette Sadler. An und auf einem Schreibtisch erkundet sie in „Notebook Series“ das Kontorsionspotenzial ihres grotesk beweglichen Körpers. Als sie sich ein drittes Bein und einen dritten Arm anschnallt, entsteht der perfekte Eindruck eines unmöglichen und doch seltsam vertraut wirkenden technoiden Körpers.

Aufgeladen mit den unterschiedlichsten Eindrücken, macht die Tanznacht glücklich bis müde. Das Gesehene läuft ineinander – auch im Ganzen hat die Tanznacht den Effekt des Verschmelzenden: Bis zu 23 Veranstaltungen fusionieren zu einem Tanzkontinuum, in dem einzelne Aspekte immer neue assoziative Verbindungen eingehen (Verbindungen: auch das ist für die Veranstalter*innen ein Aspekt des Begriffs Gefährten). Jede*r hat, anders als bei einer Abendvorstellung, ihre/seine eigene Tanznacht gesehen.