„Blank placard dance, replay“, Anne Collod. Antidote Festival Sydney Opera House, 2017 ©Daniel Boud

Spurensicherung als Reanimation des Zusammenseins

Unter dem Titel „Disruptive Constellations – Practices of Reinterpretation“ fand am 18. Mai 2021 der Auftakt zur Valeska-Gert-Gastprofessur von Anne Collod am Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin statt. Das Eröffnungspanel mit Gabriele Brandstetter, Virve Sutinen und Nele Hertling wurde auf der Webseite der Akademie der Künste veröffentlicht und ist weiterhin online abrufbar. Im Rahmen der Veranstaltung reflektierte die französische Choreografin Anne Collod über die Auseinandersetzung mit Erinnerung, Notationen und Tanzarchiven, aus denen ihre künstlerischen Projekte hervorgehen.     


In Hommage an ANNA HALPRIN (1920–2021)


In kaum einer anderen Kunstform und ästhetischen Praxis ist der Prozess und das Ergebnis ein so flüchtiges Ereignis wie im Falle des Tanzes und der choreografischen Arbeit. Die US-amerikanische Theater- und Tanzwissenschaftlerin Peggy Phelan geht sogar so weit, zu behaupten, eine Aufführung entziehe sich jeder Form der Dokumentierung und ihre Spuren könnten deshalb nicht gesichert werden. Auf den ersten Blick mag es daher seltsam klingen, wenn man Tanz und Archiv als eine Konstellation denkt, die sich gegenseitig bedingt und befruchtet. Als verbindende Instanz, die zwischen Erinnerung und Bewegung vermittelt bzw. den Tanz wiederholbar und reproduzierbar macht, könnte man Notationen und Partituren in Erwägung ziehen. Das wahrscheinlich bekannteste System zur Aufzeichnung von Bewegungen ist die Labanotation, eine Tanzschrift, die von Rudolf von Laban erfunden und von Albrecht Knust vervollständigt wurde. Indem die Labanotation die Niederschrift von Tanz und Bewegung ermöglicht, figuriert sie als grafisches und diagrammatisches Archiv, das gleichzeitig eine mediale Übersetzung und Fortleben des Tanzes bedeutet.

Ursprünglich aus der Biologie und den Naturwissenschaften kommend, erforscht die französische Choreografin und Mitbegründerin der Gruppe Le Quatuor Albrecht Knust Anne Collod die Wechselwirkungen und Überschneidungen von Erinnerung, Tanznotation und Bewegung. Thematisch widmen sich ihre Projekte dem Spannungsfeld zwischen den Spuren vergangener Choreografien und deren Rekonstruktion in neuen sozial-politischen und kulturellen Kontexten. In anderen Worten, ihre Tänze kreisen um die Absenz früherer Verkörperungen, wodurch diese wieder ins Leben gerufen werden. Insofern ist Choreografie hier als ein Medium zu verstehen, welches die Welt der Toten (und der Vergangenheit) mit der Welt der Lebenden (Gegenwart und Zukunft) verbindet. Ein Beispiel dieser Poetik, in der sich der Tanz aus dem Dialog mit den abwesenden Gesten und einer anderen Tanztradition entfaltet, ist die ortsspezifische Choreografie „Vifs! Une danse macabre en son jardin“ aus dem Jahr 2016. Hier handelt es sich um die Reinterpretation der Arbeit „Danse Macabre“, die der Tänzer, Choreograf und Tanzpädagoge Sigurd Leeder während seiner Exilzeit 1935 in England choreografierte. Wie sie mehrfach im Vortrag und Gespräch mit Gabriele Brandstetter und Virve Sutinen betont, arbeitet Collod mit dem Nachleben des Tanzes der Moderne. Damit re-aktualisiert sie das Tanzerbe der 1920er und 30er Jahre, welches mit dem amerikanischen postmodernen Tanz und der Gegenwart in Beziehung gebracht wird. Diese Arbeitsweise wird im Zentrum ihrer pädagogischen Arbeit mit den Studierenden am Institut für Theaterwissenschaften sein. 

Die Choreografien widersetzen sich jedoch einer formalen Restauration von Bewegungsstilen der Tanzgeschichte und wollen keinen musealen Bezug herstellen. Mit dem Konzept der „Anarchie der Geste“, rekurriert Collod auf die Tatsache, dass sie keineswegs eine exakte choreografische Nachahmung anstrebt, sondern die starren Modelle und die Autorität des Archivs unterlaufen möchte, um neue Interpretationsmöglichkeiten und alternative, normabweichende Körpervorstellung hervorzubringen. Ein wichtiges Ereignis, dass ihre Aufmerksamkeit stärker in Richtung kollektiver Bewegungen verschoben und mit der Idee eines utopischen Körpers verwoben hat, war die Begegnung mit Anna Halprin in 2003. Die nun 100-jährige Tänzerin und Choreografin aus Kalifornien hat mit ihren „Community Dances“ und Bewegungsritualen seit den 1960er Jahren die Welt des postmodernen Tanzes beeinflusst. Beiden ist die Annahme wichtig, dass dem Tanz eine heilende Kraft innewohnt, die für gesellschaftlich-utopische Zwecke aktiviert werden kann. Vierzig Jahre nach der Performance „Blank Placard Dance“ (Anna Halprin, 1967), re-inszenierte Collod 2017 Halprins Arbeit in Form einer Protest-Performance im öffentlichen Raum. Zum Ausdruck kam dabei das kritische Potential choreografischer Rekonstruktionen, die im kollektiven Akt der Erinnerungsübertragung das Krisengefüge der Gegenwart offenlegen. Die Archive des Tanzes sind somit keine abgeschlossenen Spuren der Bewegung, sondern transformierende Impulse choreografischer Imagination, die auf das Reanimieren des Zusammenseins ausgerichtet sind.   


Der Vortrag „Disruptive Constellations – Practices of Reinterpretation“ ereignete sich im Rahmen der Valeska-Gert-Gastprofessur von Anne Collod und in Kooperation der Akademie der Künste (AdK) mit der Freien Universität Berlin und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD). Die Veranstaltung ist auf der Webseite der AdK zu sehen: https://www.adk.de/de/programm/?we_objectID=62348

Zur Webseite der Choreografin Anne Collod: https://annecollod.com