„liú“, Jasmin Ihraç ©Harald Hoffmann

Fortwährende Bewegungsmaschine

Jasmin İhraçs jüngste Arbeit „liú“ feierte am 15. März 2021 Premiere und wurde vom 26. bis 29. Mai im Rahmen des Performing Arts Festival Berlin 2021 auf der digitalen Plattform HAU4 gezeigt. In ihrer feinfühligen Erkundung von Zyklen und Rhythmen der Natur und des menschlichen Lebens vermeidet İhraç anmaßende Behauptungen und Erklärungen und lässt das Publikum mit dem Wunder der unendlichen Zeitschleife konfrontiert. Diese gelassene und ruhige Performance verleitete mich dazu, diese Bilder und meine Gedanken Minute für Minute zu protokollieren.


19:31 Uhr – Ich dimme das Licht, schalte meinen PC ein und setze ein Headset mit Geräuschunterdrückung auf. Obwohl ich zu Hause bin, möchte ich mich im Publikum so präsent wie möglich fühlen.

19:34 – Die Aufführung hat begonnen. Blaue Laserpunkte schießen durch die neblige Bühne und erreichen schemenhafte menschliche Gestalten, die auf dem Boden liegen. Die Tänzer*innen beginnen sich vor und zurück zu bewegen. Mit durch Masken bedeckten Gesichtern kriechen sie kaum einander wahrnehmend als seien ihre Augen verbunden – sie sind allein in diesem gespenstischen Raum. Ich stelle mir vor, dass sie versuchen zu entkommen.

19:37 – Ein mittelgroßer Eisblock erscheint auf der Bühne. Die Tänzer*innen schleudern ihn in verschiedene Richtungen. Ich genieße das laute Geräusch des Eises, das über den Boden schabt, aber die Musik macht es beinahe unhörbar.

19:38 – Draußen beginnt es zu regnen. Ich ziehe mir einen Pullover über und wende mich wieder dem Bildschirm zu. Jetzt fliegt ein*e Tänzer*in in Strapaten über die Bühne. Der Akt des Fliegens lässt selbst die kantigsten Bewegungen filigran und elegant erscheinen. Ich erinnere mich daran, wie ich als Kind Trapezkünstler*innen im Zirkus beobachtete. Atemlos dachte ich, sie würden tatsächlich fliegen.

19:40 – Mittlerweile ist mir der Verlauf der Show glasklar und ich erwarte nicht, mit zu knackenden Codes konfrontiert zu werden, um die Performance zu verstehen. Aber einen Moment, was ist mit dem Titel? Ich blicke in das Programm: „Das chinesische Zeichen 流 „liú“ – Wasser (氵), Wolke (云), Strom (川) steht für das ständige Fließen des Wassers und das In-Bewegung-Sein der Dinge. Der Strom und Kreislauf, durch den alles miteinander verbunden ist, verweist auf Vorgänge in der Natur und im menschlichen Leben.‘ Ich wende mich wieder dem Stream zu und die Puzzleteile fügen sich zusammen.

19:47 – Helles gelbes Licht, welches das Sonnenlicht symbolisiert, scheint in die Kamera. Der Eisblock ist noch da, jedoch schmilzt er langsam. Die Bühne muss rutschig sein! Die drei Tänzer*innen wirbeln nonchalant über die Bühne, schneiden mit kreisenden Armbewegungen die Luft. In der leisen elektronischen Geräuschkulisse höre ich das Zirpen von Zikaden eingebettet. Wie gerne würde ich diese hypnotische Szene auf einer Waldlichtung unter der untergehenden Sonne sehen.

19:51 – Jetzt, wo die Tänzer*innen langsam im Rhythmus marschieren, gehe ich näher an den Bildschirm heran, um die komplizierten Variationen in den Bewegungen ihrer Füße zu untersuchen, und kann meine Augen nicht von ihnen abwenden. Das Muster entwickelt sich, ihre Gehtechnik und vibrierenden Gesten scheinen dem Begriff der Geschwindigkeit zu trotzen. Ich bin nicht in der Lage zu sagen, ob sie sich schnell oder langsam bewegen. Ich trinke meinen Ingwertee.

20:05 – Die Musik ist zu einem lauten Flüstern verklungen. Plötzlich beginnen die Tänzer*innen mit einer Reihe von animalischen Soli und explodieren dann in eine fröhliche Volkstanznummer. Mit entspannten Armen springen und hüpfen sie freudig zum Klang der Trommeln. Ich stelle mir vor, wie sie draußen bei einem Abendritual kurz vor Sonnenuntergang tanzen.

20:17 – Es hat aufgehört draußen zu regnen, aber dafür beginnt der Regen jetzt auf der Bühne! Als ob sie sich auf den Einbruch der Nacht vorbereiten würden, legen sich die Tänzer*innen langsam hin. In einer Wiederholung der Anfangsszene bewegen sie sich wieder vor und zurück – Ebbe und Flut. Die Lichter verblassen. Die Nacht ist hereingebrochen. Mit der Morgendämmerung wird ein neuer Tag beginnen. Das Eis wird über den Boden gleiten. Die Menschen werden die Zeitmaschine vorwärtsbewegen, um dann wieder der drohenden Dämmerung zu erliegen.

20:19 – Ich schalte meinen Computer aus und gehe in die Küche, um etwas Obst zu essen. Die Dämmerung zieht ein. Anders als nach vielen anderen Aufführungen, ist mein Kopf jetzt klar. İhraç hat mir einen abendfüllenden Tauchgang in die Schleife der Zeit geboten, in der Elemente, Zeit und Natur einem unendlichen zyklischen Muster folgen. „liú“ ist frei von den Aufforderungen, Agenden und Rätseln, um die so viele Tanzaufführungen rücksichtslos herumschwirren. Die Arbeit lässt mich meinen eigenen Platz und meine Geschwindigkeit wählen. Ich öffne das Fenster, um den Duft des abendlichen Regens hereinzulassen. Ich erinnere mich an den schmelzenden Eisblock, das einzige Maß für Zeit in der Performance, und an die zirpenden Zikaden. Diese Bilder haben ihren Platz in meinem Kopf eingenommen, und ich möchte sie noch eine Weile bei mir behalten. Also schließe ich die Augen.

Nacht – Ich träume von eisbedeckten Landschaften. Von makellosen Gletschern in strahlendem Blau. Ich wandere zwischen den Saturnmonden und frage mich, wie sie es schaffen, nicht zu kollidieren und in Stücke zu zerbrechen, während sie ewig um diesen Riesen kreisen. Wie die Tänzer*innen in „liú“ sind diese Himmelskörper zerbrechlich und einsam in der Unendlichkeit ihrer Vorwärtsbewegung. Doch am nächsten Morgen, während ich meinen Kaffee umrühre, bemerke ich, dass die scheinbar unendliche Bewegung im Uhrzeigersinn plötzlich aufhört und die Oberfläche der Flüssigkeit still wird.

Deutsche Übersetzung von Alex Piasente


„liú“ — Idee, Choreografie, Tanz: Jasmin İhraç / Choreografie, Tanz: David Mendez, Abel Navarro / Live-Musik, Komposition: RENU / Dramaturgie: Lidy Mouw / Künstlerische Beratung: Ayşe Orhon / Lichtdesign: Catalina Fernández / Bühne: Cristina Nyffeler / Kostümberatung: Franziska Sauer / Aerial Dance Bewegungscoaching, Rigging, Equipment: Abel Navarro / Produktionsleitung: Francesca Spisto / Dank an: Melih Kıraç, Thiago Granato, Mbegne Kassé (Ben-J), Juan Corres Benito, Devid Guanlandris, M. Jiang, Annette Becker, Timo Schmidt, Technik HAU3 und Uferstudios / Kamera: Smina Bluth, Silke Briel / Schnitt: Noam Gorbat / Tontechnik: Janis Klinkhammer / Tonaufnahme und Mischung: Jan Brauer.