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T.E.N.T. PALACE MINI-MEGA FESTIVAL ©T.E.N.T. Collective

Nicht warten!

An zwei der vier Abende des MINI-MEGA Festivals T.E.N.T. PALACE (DOCK 11, 20.–23. Februar 2020) ist Inky Lee dabei und nimmt Bezug darauf, wie T.E.N.T. ‚Träumen, Wünschen und Grundbedürfnissen‘ Raum geben.

Donnerstag, 20. Februar 2020

T.E.N.T. ist ein Kollektiv, das von unabhängigen Performance-Künstler*innen in Berlin (wie ich es auch bin) geschaffen wurde, um ihre jeweilige Arbeit gegenseitig zu unterstützen.

Bedeutet es, Teil der freien Szene Berlins zu sein, das notorisch ‚arm aber sexy‘ ist, dass wir meistens umsonst arbeiten – oder nahezu umsonst? Leider ja! Eine Handvoll der Leute, die bei dem Festival mitmachen, sind Freunde von mir, was heißt, dass ich die Gelegenheit hatte, das ein oder andere mit den Organisator*innen während der Vorbereitung zu diskutieren. Es ist klar, dass jede*r ungemein hart gearbeitet hat, um dieses Festival auf die Beine zu stellen, doch keine*r wird dafür bezahlt. Sie alle scheinen im Überlebensmodus zu sein. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch – sie wirken in ihrem täglichen Leben nicht verzweifelt oder Ähnliches. Sie sehen wirklich großartig aus. Und das Festival wirkt ebenso großartig. Schauen Sie sich die neun Performer*innen in Ivanka Tramps „Sedimental“ an, alle machen mit ihren prächtigen Kostümen, freudestrahlenden Gesichtern, trainierten Körpern und souveränen Präsenzen einen fantastischen Eindruck.

Man sollte jedoch nicht den Fehler machen zu denken, dass sie einfach genau so auf die Welt gekommen sind. Es ist viel Arbeit, professionelle*r Performer*in und Performance-Maker*in zu sein. Jemand stellte die komplizierten Kostüme her, und die Performer*innen widmeten eine Riesenmenge ihrer Energie und Zeit, um den Publikumsblick ergreifen zu können und den Raum in der Art und Weise zu beherrschen, wie sie es tun. Einer der Performer erzählte mir später, dass sie sogar ein Gesichts-Warm-up machen, damit sie so lebendig performen können! Es ist ein Beruf, dem wenig Wert in den Finanzplänen der heutigen Gesellschaft beigemessen wird. Was nicht gerecht ist. Wenn ich für einen Moment träumen dürfte, würde ich mich in einen gigantischen Adler verwandeln, zum Himmel hoch emporsteigen, das Herzstück dieses verdrehten Wertesystems visieren, in einem geschmeidigen rauschenden Bogen es mit meinen scharfen Fängen schnappen, es mit einer kraftvollen Bewegung in Stücke reißen, und diese in einem brennenden Vulkan zerstreuen, sodass sie zu Asche verbrennen und nicht ihren Weg zurück in diese Welt finden können.

Man sollte auch nicht annehmen, dass der Weg zum*r Performer*in und Maker*in nur attraktiv wäre und Spaß ist. Es ist für viele eine Wahl, die aus einem Schmerz rührt. Es ist ein Streben, uns in die Lage zu versetzen, in unseren Körpern frei zu sein, insbesondere wenn unsere Körper nicht genau in die Normen passen, die gesellschaftliche Standards auferlegen. Einer meiner Berliner Performerfreunde, der schwul in einer traditionellen katholischen Familie aufgewachsen ist, erzählte mir, er wurde immer wieder gepeinigt, noch eine und noch eine homophobe Situation durchleben zu müssen. Er konnte seinem Wesen keinen Ausdruck verleihen. Er erntete Augenrollen, wenn er seine Hände nach dem Make-up seiner Mutter statt nach Spielzeugautos ausstreckte. Ich bin endlos migriert, wie rastloser Blütenstaub, auf der Suche nach einem vagen Gefühl von Freiheit fern der familiären und gesellschaftlichen Normen. Zinzi Buchanan spricht darüber in der kollektiven Arbeit „Rogue Intensities“. Wie Gesellschaft versucht queere Menschen zu ‚assimilieren‘ und dabei eine Krankheit zu ‚heilen‘, die nicht existiert. Wie gewaltvoll diese Handlung ist. Es hinterlässt tiefe Spuren. Wir wollen sagen, denken und anziehen können, was immer wir möchten. Wir wollen sein können und lieben, wen immer wir lieben wollen. Wir wollen uns in Sicherheit fühlen, dazugehören und geschätzt werden, einfach so wie wir sind. Als junge Menschen tun wir alles, um diese Freiheit zu finden, die nicht ansatzweise monetär betrachtet werden kann. Es geht darum, unsere Grundbedürfnisse zu erfüllen und als menschliche Wesen zu existieren – etwas, das uns allzu oft von der Gesellschaft verweigert wird.

T.E.N.T. ist eine fürsorgliche und unterstützende Community, in der Künstler*innen ermutigt sind, sich stolz und divers auszudrücken und zu feiern. Dies ist vielleicht Lohn genug für viele des Kollektivs, die ohne Bezahlung arbeiten. Was passiert aber, wenn unsere Körper beginnen zu altern und sich zu verändern? Wenn wir nicht mehr performen können, wie wir es einst konnten. Wenn unsere Bedürfnisse unmittelbarer sind, aber die Ressourcen immer noch fehlen? Buchanan eröffnet das gemeinsame Stück, indem sie erklärt, wie sie so viele Schmerzen hatten, dass es unmöglich schien, sich zu bewegen. Wie sie deshalb zwei Jahre, bis zur Performance heute Abend, nicht getanzt haben. Anschließend stellen sie eine Frage: „Wie leben wir jenseits des bloßen Überlebens?“ Das ist auch mein persönliches Fragezeichen im letzten Jahr gewesen, da ich mich zunehmend vom ewigen Hin-und-Her-Hetzen erschöpft fühle, sowie davon, ansehen zu müssen, wie die wunderschöne Künstler*innen-Community ständig finanziell zu kämpfen hat. Wie hören wir auf, Diener*innen der Gesellschaft zu sein, alle möglichen Niedriglohnjobs zu machen – und dabei gesellschaftliche Missbilligung und Stirnrunzeln auszuhalten – während wir gleichzeitig versuchen eine kleine Utopie zu schaffen und zu erhalten, die frei ist von toxischen Bewertungen und ermüdenden Lügen darüber, was gesellschaftlich akzeptabel ist und was nicht? Wenn die Gesellschaft uns ‚Unkraut‘ nennt, okay. Wie können wir aber dann auf so wilde Weise ansteckend sein, wie Unkraut es ist? Ich will diesen Gedanken mit zu den Samstagsperformances nehmen.

Samstag, 22. Februar 2020

Nach der Show stelle ich die Frage „Wie leben wir jenseits des bloßen Überlebens?“ von Stephen Jackman-Torkoff, der in der kollektiven Arbeit „Die Phantasie“ an diesem Abend performte. Sie antworten: „Wir erschaffen gewollt eine Community und lassen zusammen Magie entstehen. Wir geben einander die Erlaubnis, kindhaft zu leben.“ Jackman-Torkoff lebt in Toronto und ist den ganzen Weg nach Berlin angereist, nur um für diesen Abend zu performen, mit Freude, aber ohne jegliche finanzielle Unterstützung. Es war ein wahres Vergnügen, dabei zu sein und ihre Arbeit zu sehen.

Ich würde jetzt gerne einen Moment einräumen, um zu erwähnen, wie jede der vier Arbeiten, die ich während des Festivals erlebt habe, in ihrer eigenen Art und Weise exquisit gewesen ist. Alle waren akribisch erschaffene Kunstwerke und mit Hingabe performt. Alle haben mich auf eine Weise bewegt. Hier gab es eine Künstler*innen-Gruppe, die ihre Fähigkeit mit Exzellenz und totaler Hingabe übte, und einander dadurch unterstütze. Manchen mag sie jedoch monströs erscheinen. Jackman-Torkoff spricht in der kollektiven Arbeit tatsächlich über einen Mann, der sich durch ihre bloße Präsenz so angegriffen fühlte, dass er versuchte, sie auszublenden, indem er ihnen immer und immer wieder „Nein“ ins Gesicht sagte. Jackman-Torkoff reagierte, indem er „Nein“ erwiderte, und ihre Präsenz nicht ausblenden ließ. Sie bringen, wieder und wieder, die Gültigkeit und Wichtigkeit der Liebe zum Ausdruck, und wie dies eine Wahl in Zeiten von Trauer, Angst und Schmerz ist. T.E.N.T. ist selbst eine Manifestation dieser Wahl in Aktion. Dieses hartnäckige aber dennoch liebevolle Wir-Gefühl mag der Schlüssel zu jener ansteckenden Präsenz sein, die sich stetig wie Unkraut auf einem offenen Feld ausbreitet.

Das wunderbar geistreich-witzige und sarkastische Stück „The Oasis“, das Caroline Neill Alexander inszenierte und performte, führte uns direkt in das Herz einer Live-Kunstauktion. Der erste Posten ist die Performance selbst, mit dem Anfangsgebot von 100 Euro. Nicht verkauft.

Für den Fall, dass Sie ebenso neugierig sind wie ich über die Auktion, liste ich alle angebotenen Objekte auf.

Posten 2: Ein Gläschen Pfefferminzliqueur – verkauft für 1,20 EUR

Posten 3: Ein Acrylgemälde, das auf der gestrigen Auktion nicht verkauft wurde – verkauft für 10 EUR

Posten 4: Vier Eintrittskarten für die „Queeeeeer Berlin Party“ im Schwuz am nächsten Wochenende – verkauft für 12 EUR

Posten 5: Drei T-Shirts: Eines mit dem Wort TOUCH bedruckt – verkauft für 10 EUR. Eines bedruckt mit POOR – Nicht verkauft. Eines mit ANUS bedruckt – nach einem heftigen Bietergefecht verkauft für 20 EUR.

Posten 6: Ein Druck eines kunstvollen Textes über Masturbation – verkauft für 3 EUR.

Posten 7: Eine Beratung durch Louise Trueheart zu drei Themen, die der*die Käufer*in selbst wählt – verkauft für 5 EUR von einer Person, die den Posten an Jackman-Torkoff verschenkte.

Posten 8: Eine einstündige Shiatsu-Sitzung – verkauft für 15 EUR.

Posten 9: Anne Carsons Übersetzung eines Sappho-Gedichtes, auf Papier gestickt und gerahmt – verkauft für 15 EUR. Ich wollte dieses Objekt wirklich haben. Es ist wunderschön und ich habe viele Fotos davon gemacht. Es lautete: ‚Und Eros erschütterte mir das Herz, wie Wind, der auf dem Berg gegen die Eichen stößt‘[1]

Posten 10: Ein Kuss von einem*r der T.E.N.T.-Mitglieder*innen (die die Auktion in grandiosen Trikotanzügen und sehr hohen Highheels leiteten), während die anderen einen Background-Tanz machten.

Hier muss ich pausieren und etwas erklären, denn ich habe dieses Objekt für zwei Euro erworben. Es war ein wirklich großartiger Kauf. Die Aktion fand direkt statt, live auf der Bühne. Ich musste mir die Person aus dem Kollektiv aussuchen, von der ich den Kuss erhalten würde. Ich war so leidenschaftlich entschlossen, weil Jackman-Torkoff während der Performance jeder*m im Publikum in die Augen schaute und flehte: „Nicht warten!“ Ich wusste genau, von wem ich den Kuss wollte, aber ich spielte auf der Bühne das Spiel des Unsicherseins darüber, wen ich wählen würde. Dies kann auf meinen Performance-Background oder meine Schüchternheit zurückzuführen sein. Vermutlich eher Letzteres. Ich nahm meinen Mut zusammen und wählte jene Person. Anfangs waren wir beide schüchtern und ergingen uns in Wangenküssen. Dann wurden wir mutiger und wechselten zu einem Zungenkuss.

Meine Güte!

Wenn Sie ein Foto dieses Events sehen möchten, ich würde es gerne zu einem Anfangspreis von einem Euro anbieten. Alle Einnahmen gehen an T.E.N.T. Nach diesem gab es noch ein paar weitere Posten, aber der Kuss machte mich schwindelig und ich war unfähig, diese weiterzuverfolgen. Ich verfuhr mich schrecklich mit meinem Fahrrad auf dem Heimweg – doch das machte mir nichts aus.


[1] Übersetzung des „Fragments 47“ aus: Sappho. Gedichte. Herausgegeben und übersetzt von A. Bagordo. Sammlung Tusculum – Artemis & Winkler 2009.


Deutsche Übersetzung von Wenke Lewandowski