Hermann Heisig, Nuno Lucas und die Compagnie BurnOut experimentieren beim „PURPLE-Festival – Internationales Tanzfestival für junges Publikum“ mit Körperwissen. Zu ernst nehmen sie sich dabei zum Glück nicht.
Wer wollte sich selbst nicht schon einmal so innovativ wie ein großer Erfinder oder Künstler fühlen?! In der jüngsten Premiere der Berliner Tanzkomplizen widmet sich Hermann Heisig dem Menschheitstraum vom Fliegen. Das tut er nicht ohne eine gute Portion Ironie. Mit dem konzentrierten Blick eines Experten prüft er Möbelteile und Baumarktmaterialien auf deren Flugfähigkeit –Leichtes wird dabei schwer und Schweres leichtgemacht. So lässt Heisig mit großer Geste zwei Tischböcke wie schwerelos durch den Raum fliegen, um diese, nach ein paar Fehlstartversuchen mit einer sanft landenden Styroporplatte zu krönen. Was hier zunächst immer wieder bedeutungsvoll auf Höheres –ein fertiges (Kunst-)Produkt etwa –abzielt, bleibt zum Glück fehlbar und verspielt. Ein lustvoller Prozess desAusprobierens.
Als interstellarer Bobfahrer startet Heisig in silbrigem Ganzkörperanzug mit einem Rollbrett bewaffnet in den imaginären Weltraum, durchfliegt mit wummernden Sound fremde Galaxien und erleidet Raumschiffbruch auf einem fremden Planeten. „Soll ich den Notarzt rufen?“, fragt jemand im Publikum. Nicht nötig, dank eines Pömpels kann Heisig sich, in einer auch Erwachsene begeisternden, herrlich albernen Szene wiederbeleben.
Es folgt die Schwere des Lebens, hier und überall: Nach einem kurzen Verschwinden im Materiallager hinter der Werkstatt-Bühne des Schillertheaters taucht Heisig als Mutant wieder auf, ein riesiges Plastikrohr am Arm tragend: „Ich habe jetzt bereits seit 37 Jahren mit Schwerkraft zu tun …“, erzählt der gut zwei Meter lange, schlaksige Mann dem Publikum. Letztendlich aber, so zeigt Heisig, ist alles eine Frage der Haltung: Zu unbeschwerter Fahrstuhlmusik und mit der Anmut eines Akrobaten balanciert er das Rohr über seinem Kopf.
Ein letztes Mal setzt er dann zum großen Wurf an. Die Zuschauer*innen springen als Countdown-Zähler*innen ein. Begleitet vom bekannten NASA-Raketenstart-Sound baut er innerhalb von fünfzig Sekunden aus Styroporplatten, Rohr und Ziegelsteinen einen Riesenpfeil, der gen Himmel weist. Schafft er es bis zum Mond? Und wenn nicht? – Auch nicht schlimm: „Hier (auf der Erde) gibt es ja genug zu tun“. Aufräumen zum Beispiel! Die einem Trümmerhaufen gleichende Bühnenausstattung jedenfalls wird für die nächste Vorstellung wiederverwertet.
Erfrischend experimentierfreudig zeigten sich auch die drei Tänzerinnen der aus Frankreich stammenden Compagnie BurnOut. Inspiriert vom Milgram-Experiment haben sie für ihre Produktion „Carte Blanche“ einen Score entworfen, in dem die Zuschauenden zu Choreograf*innen werden. Mit Zahlen von 1 bis 8 navigieren diese das Trio, zunächst als Gruppe, und dann in synchron ablaufenden Solos über die Bühne. Das energievolle Spiel, in dem feste Sequenzen einer aleatorischen Abfolge unterliegen, fasziniert durch das gute Erinnerungs- und Reaktionsvermögen der Tänzerinnen sowie durch Witz: Sie folgen im Großen und Ganzen den Anweisungen des Publikums, lassen sich dabei allerdings nicht auf Marionetten reduzieren. Aloïse Sauvage etwa, die an diesem Abend besonders überzeugt, macht ihrem Namen alle Ehre: Mit zum Quietschen komischer Aufmüpfigkeit überspielt sie die Kraft und Nerven raubende Séance und verlässt dabei auch schon mal die Bühne, um den Einsatz ihrer Kolleginnen bei einem Schluck Wasser vom Zuschauerraum aus zu kommentieren. Durchmischt wird die heiter-intelligente Aufführung immer wieder von ein paar Erdnüssen, die mitunter ins Publikum fliegen. Diese sind bekanntlich nicht nur gut für Affengehirne, sondern auch für gaffende Zoobesucher*innen.
Weniger genial als erwartet, zeigte sich das Solo „P=mg“ der BurnOut-Gründerin und Choreografin Jann Gallois. Schwerkraft erwies sich hier als ernsthafte, seelische Last, von der sich Gallois innerhalb einer halben Stunde befreite, um von der Echse, zum Menschen und zum Vogel zu werden. Ähnlich wie im Stück „Correction“ auf dem PURPLE-Festival im letzten Jahr blieb sie dabei immer wieder – wie magisch von diesem angezogen – dem Boden verhaftet. Tänzerisch hoch qualitativ ausgeführt, griff das Stück inhaltlich dann doch etwas zu kurz. Ähnliches wiederfuhr der Autorin beim auf Toleranz und Vielfältigkeit setzenden Eröffnungsstück der niederländischen Compagnie Aya. Das Tanztheaterstück „Sluier“, das in einer Mischung aus Sprache, Gesang und Bewegung den Zwiespalt eines jungen muslimischen Mädchens zwischen den Kulturen austrug, wirkte in seiner Ästhetik reichlich altbacken; mehr Sprech- als Bewegungstheater. Bei einem Voting mit Crashkurs in Dramaturgie durfte das Publikum am Ende der Aufführung darüber abstimmen, wie die Liebesgeschichte zwischen einer jungen Muslimin und einem jungen Deutschen ausgehen darf. Die Möglichkeit, sich von seinem Schicksal loszueisen und selbstbestimmt zu entscheiden, kam leider als Antwort auf eine rhetorische Frage daher. Gerade hier aber hätte der Tanz Empowerment-Qualitäten zu bieten, die jenseits sprachlicher Vorgaben liegen.