Every Minute Motherland, Maciej Kuźmiński ©Przemysław Jendroska

Körperarchive und Krieg

Every Minute Motherland von der Maciej Kuźmiński Company spielt am 19. und 20.12.2023 im DOCK 11 und erzählt von Körpern als Zeug*innen von Krieg, Trauma und Normalität.

Sieben Tänzer*innen mit Kleidung in Erdtönen betreten die Bühne. Ein Blick: Suchend, musternd, einander, dich und mich. Im Hintergrund ein konstantes Surren. Eine gemeinsame Bewegungssprache entsteht, einheitlich getanzt, exakt durchgeführt, durchgetaktet, fast kriegerisch. Körper die sich drehen, werfende Bewegungen, Wiederholungen. Dazu ertönen ruhige, fast meditative Klaviermusik und laute Schritte auf dem Boden, die eigene Rhythmen kreieren. Ein Uhrwerk aus Tänzer*innen, das Bewegungsabläufe wiederholt. Daraus austreten ist möglich – doch kurz darauf werden alle wieder eingefangen in die Dauerschleife. In Every Minute Motherland geht es um Trauma, Exil, Entfremdung und Identität. Erarbeitet wurde das Stück mit polnischen und ukrainischen Tänzer*innen und ihren Erfahrungsberichten, kurz nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine. Seitdem tourt das Stück mit der gleichen Relevanz und Aktualität. Hinzu kommt eine erschreckende Normalität, die das Betrachten von und Berichten über Krieg zunehmend beeinflusst. 

Verschiedene Konstruktionen und Formationen, abstrakte und konkretere Gesten entstehen und verändern den Raum. Die Bewegungselemente sind technisch anspruchsvoll ausgeführt. Symmetrie entsteht und wird gebrochen. Ich sehe Waffen, die zielen, höre bellende Hunde. Die Schwere der Erzählung bricht das Harmonische der durch die Körper entstandenen Symmetrie. Auf der Bühne sind viele. Dann einzelne. Allein. Zu zweit in Solidarität und gemeinsamem Leiden. Neben den Rhythmen der Füße höre ich den Atem der Tänzer*innen, im Einklang, durcheinander. Ich fühle mich nah dran, an den Tänzer*innen, deren Geschichten, die unübersehbar, unüberhörbar sind.

Dann herrscht Stille. Qual. Der Versuch allein aufzustehen. Dann zu zweit. Gemeinsame Erfahrungen und individuelle Geschichten prägen den Abend. Eine Tür aus Licht öffnet sich auf der Bühne. Da steht ein Tänzer, den ich männlich lese, dahinter eine Person mit langem Haar. Hände greifen ineinander, umeinander, umsorgen, bekämpfen, halten einander fest. Andere Hände werden eigene Hände und doch verschwindet der Tänzer irgendwo in der Dunkelheit der Bühne. Während ich hier sitze, denke ich über unterschiedliche Lebensrealitäten nach.

Irgendwann höre ich auf zu denken, zu assoziieren und fühle einfach nur. Die Maciej Kuźmiński Company schafft es, das auszudrücken, was Worte nicht mehr vermitteln können, was nur Körper anderen Körpern erzählen können. Emotionen und Erfahrungen, eingeschrieben in die Körper-Archive, die anderen Körpern davon berichten, was ist, was war und was sein könnte.



Ich möchte das Stück als Erinnerungsarbeit sehen. Stattdessen erinnere ich mich an die erschreckende Alltäglichkeit der Erzählungen.

Nach dem Stück erzählt Choreograf Maciej Kuźmiński von einer Tänzerin, die trotz möglichen Einzugs in die Armee zu Weihnachten nach Hause in die Ukraine reisen will. Was ist dieses Zuhause in Every Minute Motherland?


Every Minute Motherland der Maciej Kuźmiński Company wurde am 19. und 20. Dezember 2023 im DOCK 11 gezeigt.