„The big leap“, Raheleh Taabodi © Matt Photo Group

Klandestine Kunst

Bei den Tanztagen Berlin gastieren Choreograf*innen aus dem Iran mit ihren im Untergrund entstandenen Soli.

Angst habe er keine, sagt Mohamad Abbasi. Und so lange er keine Angst habe, werde ihm nichts passieren, glaubt er – obwohl er als Tänzer, Choreograf und Festivalkurator im Iran arbeitet, wo Tanz als Bühnenkunst verboten ist, das islamische Scharia-Recht gilt und behördliche Schikanen bis hin zur Verhaftung an der Tagesordnung sind. Abbasi hat durch seine Workshops in Teheran eine zeitgenössische Tanzszene mit begründet und im Jahr 2010 das Untimely Festival ins Leben gerufen. Ein Untergrund-Ereignis, das spurlos vonstatten geht insofern als es keine Berichte in Medien gibt, das Festival keine Webseite hat. Wer auf diese Weise unsichtbar bleibt, kann auch tanzen im Iran; nur auf den Bühnen oder dem Radar der auflagenstarken Medien darf die Kunst nicht auftauchen.

Bei den Tanztagen Berlin gastiert das Festival nun allerdings öffentlich, mit vier Choreograf*innen und dem Fotografen – und die Berichterstattung über den Tanzaustausch wird wenn nicht bestimmt, so doch beeinflusst von der iranischen Zensur. Wer wem was für welches Medium sagt, ob mit oder ohne Nennung des Namens, all das muss plötzlich verhandelt werden. Die iranische Botschaft liest mit, so die Annahme. Wer Furcht vor Folgen hat oder haben muss, bleibt lieber namenlos, unsichtbar. So haben nur zwei der drei Choreografinnen, die am zweiten Gastspielabend ihre Soli zeigen, einer Besprechung zugestimmt. (Sorour Darabis Solo vom ersten Abend habe ich leider nicht gesehen.)

Mit Wiederholung und Variation experimentiert Masoumeh J. in ihrem radikal simplen, stummen Solo „Decline“: Minutenlang steht sie mit exakt abgezirkelten Bewegungen von einem Hocker auf, geht einen Schritt vor, einen zurück und setzt sich wieder hin, das Gesicht starr, die Augen ins Publikum gerichtet. Die Aufmerksamkeit der Zuschauerin gleitet schon ab, die Gedanken verselbständigen sich: ist das jetzt gut oder schlecht, wichtig oder belanglos?, da bleibt J. stehen. Erneut minutenlang verharrt sie regungslos, bis ihr Gesicht zu zerfließen scheint, sich auflöst im harten Schattenwurf der Lichtdusche, dann schwarz-weiß wirkt wie ein Holzschnitt. In ihrer Unbewegtheit scheint Widerständigkeit auf – Renitenz gegen die zuvor vollzogene Routine. J. tut nichts, aber das ist ein politischer Akt: Diese züchtig mit Hemdkleid, Strumpfhose, Schnürschuhen und Kopftuch bekleidete Frau verweigert sich den vorgegebenen Abläufen, sie lehnt sich auf. Dramatische Qualität gewinnt „Decline“ auch durch die Musikauswahl: Den Klang beschädigter Barockorgeln in aufgelassenen Kirchen hat der Wiener Komponist und Sound-Performer Stefan Fraunberger montiert, und dieser Klang scheint körperlich zu werden und Masoumeh J.s Silhouette aufzulösen. Als J. das Hinsetzen und Aufstehen erneut beginnt, sind ihre Bewegungen gelöster, ist der Ablauf nicht mehr exakt, sondern eigen – mit diesen sparsamen Mitteln verkörpert sie den Wunsch, auszubrechen, das (Alltags-)Leben selbstbestimmt zu gestalten.

Auch Raheleh T. erzählt von einem Aus- und Aufbruch. Auf Sprache basierend, ist „The Big Leap“ das gestisch begleitete Narrativ einer Familie in Isolation. Zwei Schwestern stehen sich in den Ecken eines per Lichtquadrat auf dem Bühnenboden markierten Hauses gegenüber, in enger Verbindung durch einen starken Blickkontakt, den T. wiederholt mit einer von der Handkante geführten geraden Bewegung neben ihrem Oberkörper verdeutlicht. Die Eltern wiederum, in den anderen beiden Ecken, führen den kippenden Armbewegungen T.s zufolge eine Beziehung, die eher einer Waage ähnelt: einem veränderlichen Macht(un)gleichgewicht. Der Bruder im Zentrum, auf der Kreuzung der Beziehungslinien, bringt diese lineare Anordnung in Aufruhr. Er erobert sich eine frei schwingende Bewegung – Arme vor, Arme zurück, unablässig –, vielleicht ein Losfliegen. Diese Befreiungsbewegung scheint so zersetzend, dass die Mutter aus Traurigkeit dicker und dicker wird, anschwillt, bis sie birst, wie T. mit einer narrativen Wendung ins Splatterfach schildert. Der Vater wiederum zieht sich in die Hauswand zurück, verschwindet. Die Familie zerbricht – der Preis der Freiheit, die auch die Schwestern genießen wollen und, am Ende elternlos, müssen.

Zwei minimalistische Soli, gearbeitet mit unterschiedlichen Mitteln, sind sie doch verbunden durch die Haltung der beiden Tänzerchoreografinnen: präsent, klar, fokussiert wirken Masoumeh J. und Raheleh T.. Ebenso sind auch ihre Arbeiten: präzise, konzentriert, formal schlüssig. Ein Klischee, und doch stimmt es: Diese in einem klandestinen Kontext entstandenen Choreografien vermitteln eine existenzielle Eindringlichkeit, sie sind ein Akt selbstbewusster Auflehnung. Ob sie allerdings ohne den politischen Hintergrund eine derart starke Wirkung hätten, ist fraglich.

Thematisieren Masoumeh J. und Raheleh T. die in der Islamischen Republik Iran vorgegebene passiv-submissive Rolle von Frauen, der ein innerer Drang zum Ausbruch korrespondiert, rührt das dritte Stück des Abends an faktische Tabus. Erleben können das Solo nur diejenigen, die persönlich eingeladen werden; die Tanztage-Kuratorin Anna Mülter führt der Choreografin diejenigen Zuschauer*innen zu, die ihr bekannt sind. Ein Hauch von Konspiration umweht die Performance. Über sie zu berichten, ist untersagt, um die Künstlerin zu schützen. Die Flüchtigkeit von Tanz als Kunstform ist, so begreift man, in einem repressiven Regime ein Vorteil. Und welch unterschiedliche Wertigkeiten Kunst in ihrem jeweiligen Kontext kennzeichnen: Im Untergrund gilt eine entscheidende Währung – Vertrauen.