„Crossing half of China to sleep with you“, Christoph Winkler © Dieter Hartwig

Geben oder genommen werden

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In der Vierten Welt am Kottbusser Tor konfrontieren sich Christoph Winkler und Naishi Wang mit Übersetzungsschwierigkeiten.

China ist, was seine Poesie angeht, von Deutschland aus gesehen fast noch eine Terra Incognita. Es gibt eine kleine Auswahl an Klassikern in Übersetzung, es gibt auch einzelne, sehr wenige Gedichtbände von Zeitgenoss*innen – meist solchen, die sich im politischen Exil befinden –, aber diese Anzahl ist verschwindend gering im Bezug auf die große Popularität der Dichtkunst in China. Die deutsche Lyrikerin und Sinologin Lea Schneider hat daher Ende letzten Jahres die „Chinabox“ herausgegeben, einen spannenden Auswahlband chinesischer Gegenwartslyrik jenseits von „Pflaumenblüte oder Dissident“ –Thematik. Darin zitiert sie im Vorwort den Dichter und Literaturprofessor Zang Di, der die Anzahl der Lyriker*innen in China auf mindestens eine Millionen schätzt.

Eine unter ihnen ist Yu Xiuhua, deren berühmt gewordenes Gedicht „Crossing Half of China to Sleep With You“ nun die Vorlage bot für ein im Projektraum Vierte Welt zur Uraufführung gekommenes Tanzstück von Christoph Winkler (Konzept, Choreografie) und Naishi Wang (Choreografie/Tanz). Die Dichterin Yu könnte unter eine eigene Kategorie chinesischer Autor*innen gerechnet werden: diejenige der über Nacht berühmt gewordenen Social-Media-Stars. Vor allem den dichtenden Wanderarbeiter*innen, die ihren brutalen Alltag in so dokumentarischen wie persönlichen Versen verarbeiten, widerfährt zuweilen solch ein Social-Media-Hype. Immer mal wieder gibt es ein neues Lyrikwunder. Yu Xiuhua lebt, den Dokumentationen, die es im Netz über sie gibt, zufolge, unter ähnlich prekären Bedingungen, ist aber Bäuerin. Zum Lebenserhalt züchtet die 40-Jährige, die seit der Geburt ein Leben unter den Bedingungen einer Zerebralparese führt, Kaninchen. Muss man das wissen? Ja und nein. Die biografischen Details sind mit ein Grund für ihre Berühmtheit, die Qualität ihres Gedichts kann aber vollkommen für sich stehen.

Für die Wahrnehmung von Wangs Solo stellen sich jedoch durch das biografische Hintergrundwissen ganz andere Fragen, als die auf dem Abendzettel genannten. Letztere beziehen sich auf den Themenzusammenhang der Übersetzung, einerseits der sprachlichen vom Chinesischen ins Englische – schade, dass die Mühe einer deutschen Übersetzung gescheut wurde – , anderseits der Übersetzung von Sprache in Bewegung. Im Bezug auf diese Transfers setzt der Programmtext ein „Scheitern“ als Grundlage für den Duktus der Performance voraus – was eine sehr starke Interpretation der Tatsache ist, dass am Ende des Übersetzungsprozesses nicht ein Eins-zu-Eins-Abbild des Originals stehen kann. Die Frage wäre für mich viel mehr, ob die Qualitäten, die verloren gehen und die, die entstehen, produktiv sind. Generell scheint es an der Zeit zu sein, an ein Grundlagenwerk zu Sprache/Dichtung und Tanz zu denken. Die gelegentliche Wiederkehr des Themas, sprich, ein Tänzer tanzt ein Gedicht und legt sich dafür in seiner durchschnittlich sechswöchigen Projektzeit ein unterkomplexes Analyse-/Interpretationsverfahren zugrunde, gibt nicht eben viel her – auch wenn in die Annäherungsversuche durchaus charmant sein können.

In diesem Fall sucht Wang für jeden der Sätze des philosophischen (To spend or to be spent) und sozialkritischen (political prisoners and displaced workers are abandoned) Liebesgedichts eine Geste, die mal symbolisch, mal abstrakt wirkt. Grundprinzip der meisten so gesetzten Körperzeichen ist ein blockierter Bezug zur Horizontalen: entweder durch ein Kreuzen der horizontal ausgerichteten Arme, durch eine Überspannung oder Abwinkeln derselben oder durch eine nach unten oder zur Seite weisende Gegenspannung des Körpers. Auch die Finger bewegen sich dabei wie überspannte Fühler oder Antennen, als würden sie sich durch Erhöhen der Spannung weiter ausfahren lassen. Zur Gestik spricht der Tänzer, der zum schwarz-metallischen Outfit etwas Lippenstift aufgetragen hat, zunächst den chinesischen Text, im zweiten Durchlauf wird, während Wand die mittig sitzenden Zuschauer*innen umrundet, die englische Übersetzung an den vier Wänden des Galerie-ähnlichen Veranstaltungsortes eingeblendet. Im dritten Teil, in dem nur noch Fragmente des Textes projiziert werden, erhöht sich die Körperspannung noch, die Bewegungen gehen ins unkontrolliert wirkende Krampfhafte, bis ins x-förmige nach Innen Klappen wie sie bei Spasmen vorkommen. Besonders virtuos wirkt das scheinbar unkontrollierte Zucken einzelner Gesichtspartien. Es folgt ein Wechselspiel zwischen Krampfen und Entladen, in das auch das Atmen einbezogen wird: Luft anhalten bis kurz vor dem Platzen, dann eruptives Entweichen der Luft.

Dass diese Bewegungsabläufe mit Spasmen und Muskelhypertonie in Zusammenhang gebracht werden können und damit mit der Zerebralparese der Dichterin, macht die Performance so interessant wie schwierig. Interessant, weil die Tendenz, ein lyrisch sprechendes Ich zu romantisieren – entweder durch resistente Klischeebilder oder durch die Überlagerung der formalen Harmonisierung, die vom Gedicht ausgeht, auf die Schreibende – unterbunden wird. Schwierig durch das nicht geklärte Verhältnis zu und von Autorin und Text sowie durch die Frage, unter welchen Umständen eine Aneignung von behinderungsbedingten Bewegungen vertretbar ist. Die kanadische Choreografin Marie Chouinard etwa ist dafür bekannt und berüchtigt, dass sie aus psychischen Zuständen gewonnene Bewegungen verwendet, die äußerlich aussehen wie klischierte körperlich-kognitive Dysfunktionalitäten. Um eine solche (nicht intendierte?) Koinzidenz könnte es sich auch bei dem – übrigens hauptsächlich in Kanada arbeitenden – Winkler-Tänzer Wang handeln.

Wahrscheinlicher scheint mir, dass Winkler und Wang sich bewusst für die ambivalente Überlagerung von gefundener Bewegungssprache und möglichen biografischen Assoziationen entschieden haben – selbst wenn es ihnen vordergründig um Übersetzungsverfahren geht. Nur warum? Das Aneignen behinderungsbedingter Bewegungen ist grundsätzlich natürlich nicht verboten, auch wenn es viele aus nachvollziehbaren Gründen schmerzt. Die Freiheit von Kategorisierungen und damit auch die Freiheit zur Aneignung nicht-biografie-eigenen Materials sollte für alle gelten, einschließlich des Bewusstseins dafür, was es über die eigene Haltung aussagt. Und genau dieser Punkt ist bei Wang undeutlich. Warum begibt er sich als Bewegungsprivilegierter in diese gestauten Energien, die weder der entschlossen vorwärts drängenden Energie noch den durchlässigen Dichotomien des Gedichts entsprechen, noch den Übersetzungsakt erläutern können? Die Antwort bleibt die noch skizzenhaft wirkende Performance schuldig. Was mir daran trotzdem gefällt: die Ungestümheit und auch die Hingabe, ein aktuelles Lieblingsgedicht zu vertanzen.