„nicht schlafen“ von Alain Platel und Les Ballets C de la B auf Station im Haus der Berliner Festspiele.
Es scheint in Flandern eine Vorliebe für Pferdekadaver zu geben. Die inklusive Theatergruppe Tibaldus en andere hoeren brachte mit „Horse: An Opera“ 2015 ein Papppferd auf die Bühne, das unter Großeinsatz der Beregnungsanlage erbärmlich lebensecht in sich zusammensank. Nach der Performance versammelte sich das Publikum, das sich nicht von dem Anblick losreißen konnte, wie bei einer Aufbahrung. Für „The Blind Poet“ der Needcompany wurde, ebenfalls 2015, dagegen ein totes Maultier über die Bühne geschleift – dieses Mal in naturalistischer Gestalt. Und im Spätjahr 2016 kam dann auch Alain Platel, beziehungsweise die Bildende Künstlerin Berlinde de Bruyckere, die er für seine aktuelle Produktion „nicht schlafen“ als Bühnenbildnerin angestellt hat, auf die Idee mit dem Pferd, nur dass es gleich drei waren: zwei ausgewachsene und ein Fohlen. Auf der Bühne im Haus der Berliner Festspiele, wo die Inszenierung auf ihrer umfangreichen Europatour zuletzt zu sehen war, ließen sich vom linken Zuschauerraum aus allerdings nur die großen lebensechten Leichen sehen.
Was hat es auf sich mit der Kadaver-Koinzidenz? Alles deutet auf eine relativ nachvollziehbare Äußerung des kollektiv Unterbewussten. In den Jahren 2014-18 bildet der Erste Weltkrieg eine europäische Gedenkmarke (und zieht nebenbei auch als Fördergeldthema ganz gut). „La Grande Guerre“ oder „De Grote Oorlog“ ist in Belgien die geltende Bezeichnung für den Ersten Weltkrieg. Sie sagt etwas über den Stellenwert aus, den er im kulturellen Gedächtnis einnimmt. In diesem Sinn ist er in den letzten Jahren in Belgien auch im Gedenken absolut präsent gewesen. Das in den Schlachten zu Tode geschundene Pferd wurde dabei in seiner ganzen Ohnmacht und gebrochenen Würde vielleicht tatsächlich zum Sinnbild der unschuldig leidenden Kreatur – und damit auch zum Identifikationsobjekt einer Nation, die den Ersten Weltkrieg weit traumatischer und in einer klareren Opferrolle erlebte als den Zweiten. Zusammen mit der starken Vorliebe, die die Performance-Szene derzeit – im Zuge ihrer anti-anthropomorphen Diskurse – für die Tierwelt hat, könnte dieser Hintergrund eine mögliche Erklärung für die aktuell flämische Bühnen-Bildsprache sein.
Bei Platel werden die Kadaver allerdings weniger interaktiv verwendet
als in den Vorgänger-Inszenierungen. Zwar wird einmal eine der
Pferdeleichen per Flaschenzug etwas nach oben angehoben und die zweite
von Tänzer*innen sowohl beritten als geschändet; sie sind aber in erster
Linie dominante Kulisse. Und damit auch die wesentliche Botschaft
dessen, was „nicht schlafen“ zu bieten hat: ganz großes Pathos.
Alain Platel war schon immer ein Choreograf der großen Geste. Wenn er
Monteverdi und Bach für sein Tanztheater verwendet hat, dann ging es ihm
um die Passion, um die Groteske der Verhaftung an Irdischem, das
Tragische der Irrungen und Wirrungen, und weniger um die Befreiung
davon. Die Unfähigkeit seiner Protagonisten zu funktionieren hat ihm den
Ruf des Unangepassten eingebracht, Dissoziation war der Ausdruck der
von ihm geprägten Avantgarde. Naturgemäß (yes!) ist dieses Interesse mit
den Jahren zur Masche geworden. Die Außenseiter-Figur wurde die Währung
seines Theaters. Das Pathos des Dysfunktionalen, des
Neben-der-Spur-Seins sein Handwerkszeug.
So darf auch in „nicht schlafen“ keine*r der hervorragenden Tänzer*innen der ballets C de la B funktionieren und befindet sich schon das Geschlechterverhältnis in ungünstigstem Ungleichgewicht: eine Frau, acht Männer. Tragische Gestalten sind das, die alle mal kurz andeuten, auf welchem Niveau und mit welchen Spezifikationen sie tanzen können (HipHop, Ballett, kongolesischer ritueller Tanz, Facetten von Contemporary), die gelegentlich durchblicken lassen, dass sie eigentlich nette Leute mit liebenswertem Humor sind, die aber dem Schicksal aus Kopulieren, Vergewaltigen, Schänden und Kämpfen trotzdem kaum etwas entgegen zu setzen haben.
Untermalt wird diese Erbärmlichkeit des Schicksals mit dem nach Wagner größten musikalischen Pathetiker: mit Mahler. Und der Komponist und Arrangeur Steven Prengels hat bei der Collage aus dessen Symphonien ins Volle gegriffen. „Oh Mensch, gib acht!“, tönt der vierte Satz aus der dritten Sinfonie, playback von einzelnen Tänzer*innen gemimt, „was spricht die tiefe Mitternacht?“. Die Antwort ist klar, sie steht in Platels Titel. Der Choreograf übernimmt dabei selten eins zu eins die Emotionen der Musik. Oft choreografiert er derangierte Tutti voller überspannter Körper zur Symphoniedröhnung und spielt das Drama erst später aus. So lässt er seine Tänzer*innen zum Bass-Staccato vom Beginn der sechsten Symphonie ihre Körper von den Schultern her wie zusammengedrückte Korkenzieher in die Erde schießen, eine Frühlingsopfer-artige rhythmische Aufgeladenheit entstehen, die er – über ein Intermezzo aus zackiger kongolesischer Polyrhythmik – später in eine Häutungsszene entlädt.
Dass dieses ausgeklügelte Pathos den Nerv der Zeit trifft, dass diese brachial-archaische Spiegelung einer aus den Fugen geratenen Welt aus der Seele spricht, dass hier die Vorboten des Ersten Weltkriegs zu Mahnern des Dritten (no!) werden, ist nicht überraschend. Das Publikum dreht beim Schlussapplaus durch. Aber ist dieser aufgeladene, zähnefletschende Alarmismus nicht schlicht ein Spiegel von politischem Populismus – und zwar nicht in der Analyse-Version sondern in der emotionalen Bejahung der entsprechenden Methoden?