Felix Marchand nimmt es für “Billy” mit Kindern und Regalen auf. Das funktioniert als Einführung in den zeitgenössischen Tanz einwandfrei.
Was haben Billy-Regale und Billy the Kid gemeinsam? — Sie sind immer für ein Abenteuer gut! Felix Marchand hat sich von den beiden Billys zu einer Tanzperformance für ein Publikum ab sechs Jahren inspirieren lassen. Entstanden ist daraus eine tolldreiste Choreografie, die Tanz und Performance mit Slapstik und Puppentheater vereint. Möbel(un)kultur trifft hier auf Klischees vom Wilden Westen und die Frage nach dem, nach welchen Regeln zeitgenössischer Tanz funktioniert.
Weiß, stabil und lückenlos aneinandergereiht stehen sie auf der Bühne: Dreizehn mannshohe Regale, hinter denen hörbar die Fetzen fliegen — das kann nichts Gutes bedeuten! Und tatsächlich, Felix Marchand ist in Schwierigkeiten. Ein paar Objekte setzen ihm hörbar zu, lassen ihn stolpern und fluchen. Die Verursacher des akustischen Treibens tanzen alsbald wie im Puppentheater auf Stöcken und Ständern über den Regalen entlang — Eimer, Vorhangstoff, Wischmob und Mikrofon. Nach einer Weile bemerkt der von Marchand gemimte Tollpatsch (— oder ist es doch Marchand selbst?), dass er nicht alleine im Theater ist. Mit zerzaustem Haar und Tritratrulala-Grinsegesicht besteigt er eine Leiter, bittet um Licht, und nähert sich neugierig und erfreut dem (vermeintlich) soeben entdeckten Publikum. An der Regalwand angekommen, reitet er diese unter „Jiphiiiie“- und „Yee-haw“-Rufen mit der Leiter entlang. Wieder innehaltend fragt der zerstreute Amateur (— auch Schusseligkeit macht das Leben zu einem Abenteuer —), fast hätte er´s vergessen, ob denn auch schon alle da seien und ist gleich für die nächste Überraschung gut.
Statt Mikrofon-Test macht er den Regal-Test. Als würde er zum ersten Mal auf ein Pferd steigen, sattelt er von der Leiter auf die Regale um. Ob diese wohl als Mitperformer*innen taugen? (— das ist im Tanz eine durchaus aktuelle Frage). Marchand staubt sie zunächst einmal ab. Bei Regal No 5 bleibt er hängen und vollführt mit den herausgefallenen Brettern einen tänzerischen Balance-Akt — Kaspers Teufel, soviel ist klar, steckt im Möbel. Der Wachtmeister und sein erhobener Zeigefinger in der Bauanleitung: „Ach-tung, Verletzungsgefahr!“ heißt es da in zwanzig Sprachen, was Marchand mit nachdrücklichem Millitärston spottend zitiert. Kurz darauf bricht er durch die Rückwand von Regal No 10. — brave Kinder spielen nicht mit schwedischen Möbeln! Oder etwa doch? Mann jedenfalls macht was daraus: Seitenflügel, Dreh- und Geheimtüren (— Marchand schlüpft schelmisch durch einen Spalt in der Regalwand) — Rutsche, Umkleide (— wichtig für den zweiten Teil des Stücks!) Barren (— dafür braucht´s natürlich zwei Regale —), Hasenohren, Bretter für vor den Kopf. Ach nee, Brett vorm Kopf … „Und, was kann man damit noch machen?“ — „Ja, genau!: Kleinholz“ — fürs Cowboy-Lagerfeuer! Erneutes Arrangieren der Möbel — zwei offene Regaltüren ergeben zusammen eine Saloon-Tür. Dazu ein paar Kartons mit Schlitzen, in die Marchand ovale Pappen mit Strichen steckt — „Na, was ist das? Aber nicht verraten“. Nach einem atemberaubenden Kampf mit einem störrischen Regal, das sich einfach nicht von A nach B transportieren lassen will, verschwindet Marchand mit einer Jeans, ein paar Cowboystiefeln und -hut hinter dem Umkleide-Regal — Klopf, klopf! „Darf ich mal kurz? Ah, ja, is frei!“ … „Aber nicht gucken!“ …
Simsalabim! Marchand steht da in voller Kuhjungenmontur und … macht — ganz Klischee — erstmal Pause. Er setzt sich auf die Treppe im Zuschauerraum, wartet und schaut auf sein Arrangement. Wartet und schaut und wartet, bis er die volle Aufmerksamkeit der Kinder hat — „Nicht immer nur auf mich schauen! Da! Schaut mal, da!“ Er weist auf die Bühne und hält das junge Publikum hin: „So, noch fünf Minuten“. „Vorbei“. Nun braucht er eine paar Kabelträger, denn er will sein Mikrofon anschließen. Mit ein paar Freiwilligen (Fohlen) im Schlepptau läuft er zum Mischpult und fragt sie, was ihnen zur Bühne einfällt. Aus den Antworten baut Marchand einen Satz und vermittelt mal eben zusammenfassend, was Improvisation bedeutet, will heißen, was er zuvor (vermeintlich) auf der Bühne gemacht hat. Und dann noch mal ganz konkret die Frage nach dem, was die Kinder im Arrangement gesehen haben.
„Den Wilden Westen“. Startschuss: Marchand stellt County-Musik an und jagt los. Die Treppen hinunter, rund um die Zuschauertribüne und rauf auf zwei nebeneinander am Boden liegende Regale. Nach all dem abstrakten Tanz, zeigt er nun präzise und ausdauernd, was ein Cowboy noch so kann. Schon wieder Tanz, aber dieses Mal „echter“. Marchand tanzt Line-Dance zu „Oh! Susanna“. Dass er mit dem Tanzen und nicht mit einer Schießerei beginnt, verrät viel über sein schelmisches Talent, aber auch über das dramaturgische Spiel mit den bereits angetriggerten Erwartungshaltungen des Publikums.
Die linke Hälfte der Bühnenseite entpuppt sich zunehmend als Saloon. Auf der rechten ruft die Prärie mit Regen und Geiergeschrei. Unterlegt von instrumentalem Westernsoundtrack spielt Marchand alias Billy the Kid nun einen ganzen Filmtrailer vor den Augen des Publikums ab: Geier aus Regalwänden schwingen sich hinauf in den Bühnenhimmel, Marchand flitzt als Koyote an den Pappkartonkakteen vorbei, der Leiter-Gaul geht durch, Billy zieht seine Pistole und springt über ein Hindernis, fährt das Regal als Kanu über einen reißenden Fluss. Nach einer Weile findet er einen Unterschlupf. Ein Indianer taucht auf (die Umkleide macht es möglich). Dann erscheinen Cowboy und Indianer im Wechsel und jagen sich scheinbar, bis Ersterer einen mannshohen Karton mit Zickzackmuster als Marterfall erkennbar werden lässt. Nach der wilden Jagd gönnt der müde Cowboy sich ein Päuschen. Ein (echtes) Kind (aus dem Publikum) hilft ihm beim Stiefelausziehen.
Das grelle Theaterlicht geht wieder an und Marchand zückt den Wischmob. Hält ihn ans Gesicht: „Huhu, ich bin der Weihnachtsmann. Ach nee, quatsch“ – wer glaubt schon noch an Illusionen oder ein Theater der Repräsentation?! Marchand jedenfalls nimmt die letzte Kurve zum zeitgenössischen Tanz (— Geschlechterrollentausch!) und gibt mit Mob auf dem Kopf eine Ballerina der Pariser Staatsoper. „Oui. Oui. Oh là là!“. Das könnte auch die Geliebte des Cowboys sein, die sich da gerad aus dem Staub macht und die Bühne verlässt.
Marchand jedenfalls kommt noch einmal für eine Zugabe heraus. Als hätte er heute noch nicht genug Abenteuer erlebt, stellt er sich dem jungen Publikum für ein spontanes Interview zur Verfügung. Auf die Frage, warum er das alles hier alleine tue, hat Marchand zwei Antworten parat: 1. Er ist so sein eigener Boss, Choreograf und Performer in einem. 2. Wegen des Budgets. Es gab nicht genug. Auch das ist eine erwähnenswerte Realität des zeitgenössischen Tanzes, von der sich Marchand mit seiner fahrig-genialen One-Man-Performance aber nicht weiter beeindrucken lässt. Oder macht Not etwa erfinderisch?