„My Body is Your Body“, Overhead Project ©Ingo Solms

Die Unmöglichkeit symmetrischer Beziehungen

In “My Body is Your Body” überträgt das Kölner Overhead Project das zirkuseigene Können und das Spiel zwischen Vertrauen und Risiko in eine tänzerische Choreografie und erzählt von einem gesellschaftspolitisch relevanten Thema, ohne dabei die Faszination und das Spektakel auszuschließen.

Der Wunsch danach, dass wir alle das Gleiche sehen oder differenzierter ausgedrückt, was wir sehen, von unserem Gegenüber vollkommen gespiegelt bekommen, wird nie vollständig in Erfüllung gehen, so lange Vielfalt ein Begriff bleibt. Das Leiden – oder auch die Freude – am Fehlen der perfekten Spiegelsymmetrie im sozialen Leben ist und bleibt eine ewige Quelle geisteswissenschaftlicher Diskussionen. Kleine Alltagsweisheiten bringen es aber manchmal besser auf den Punkt als jegliche Theorien. Wer den John Carroll Lynch-Film “Lucky” aus 2017 gesehen hat, erinnert sich vermutlich an die Szene, in der der gleichnamige Protagonist, gespielt vom Kult-Schauspieler Harry Dean Stanton, bei einem Kreuzworträtsel zum ersten Mal dem Wort “Realismus” begegnet. Wörterbuch-Definition: Dinge anzunehmen, wie sie sind und bereit zu sein, sich dementsprechend zu verhalten. Lucky ist ganz unzufrieden mit dieser Halbwahrheit und widerspricht ihr mit seinen 90 Jahren Lebenserfahrung: “Aber was du siehst, ist nicht das, was ich bekomme.”

Versuche, die Unmöglichkeit einer exakten Spiegelung oder die Asymmetrien der Machtverhältnisse per sozialer Choreografien aufzuheben, inszenieren sich auf allen Bühnen des Gemeinschaftslebens. Das Stück “My Body is Your Body” von der Kölner Kompanie Overhead Project unter der Leitung des zeitgenössischen Zirkus- und Tanzkünstlers Tim Behren, nimmt sich die Konstruktion von Ordnung als Ausgangspunkt, in zwei Bereichen, wo diese Versuche besonders sichtbar sind: Die Theaterbühne und die Politik. Die Berlin-Premiere des 2018 in Köln uraufgeführten Stückes am 29. Januar 2020 im TAK Theater im Aufbau Haus in Kreuzberg fängt schon mit einer ungewöhnlichen Begrüßung an. Die drei Tänzer*innen/Akrobat*innen in Anzügen weisen den Zuschauer*innen ihre Sitzplätze an. Eine Geste der Kontrolle hinter der Fassade der Höflichkeit. Die Bequemlichkeit, sich keine Gedanken über den besten Sitzplatz machen zu müssen, vermischt sich in einen inneren Widerstand gegen Unterwerfung. “Wie im Parlament”, sagt Behren später im Publikumsgespräch. Zuerst Platz nehmen und dann zuschauen. Auch die Sitzordnung im vollgepackten Saal, auf gegenüberliegenden Sitzreihen, ist von den Oppositionsbänken im britischen Parlament inspiriert. So schauen wir uns nicht nur das Stück an, sondern sind anderen Zuschauer*innen und deren Reaktionen ausgesetzt. Das verstärkt den instinktiven Drang nach dem Teilen des Gesehenen. Und was ist, wenn unsere Emotionen zum Stück im Gesicht unseres Gegenübers kein Echo finden? Einsamkeit, Nervosität, Gleichgültigkeit? Die gegenüberliegenden Sitzplätze sind gleichzeitig ein Hinweis auf die Zirkustradition, die eine kreisförmige Sitzordnung vorsieht. Statt Ecken und Kanten ein demokratischer Kreis, der die Hierarchien aufs Minimum reduziert und Menschen näherbringt. Ist das aber möglich, das Gleiche zu sehen? Aus dem Begleitheft zum Stück lernen wir, dass die Oppositionsbänke ihre Wurzeln – anders als gedacht – im anti-demokratischen System der Monarchie haben.

Wenn die drei Protagonist*innen des Abends, Leon Börgens, Leonardo García und Mijin Kim – jede*r von einem anderen Kontinent der Welt – vor uns stehen, sieht erstmal nichts auffällig ungleich aus. Keine extremen Unterschiede im Ausdruck, zwischen den Farben ihrer Anzüge, in ihrer Größe und ihrem Gewicht. Doch spätestens wenn sie anfangen sich zu bewegen, wird es deutlich, dass keine*r dieselbe Erfahrung macht. Jeder Unterschied im Körpergewicht, im Abstand zu den Zuschauer*innen, im Timing, im Setting schafft andere Bilder und Gefühle. Für sie und für die Beobachter*innen. Um die Wirkung subtiler Unterschiede deutlicher zu machen, verwendet das Stück ein limitiertes Bewegungsvokabular, das sich in jeder Wiederholung anders ansehen lässt und von der atmosphärisch-minimalistischen Musik in Form von manipulierten Feldaufnahmen von Simon Bauer unterstützt wird. Im Prinzip handelt es sich um Tragen und Getragen werden (in Form von Luftakrobatik), um Nähe und Distanz, Schwere und Leichtigkeit, Kooperation und Widerstand. Teilweise wirkt die Körpersprache aggressiv und gewalttätig, Dialoge zwischen zwei Körpern muten an wie ein Duell. Aber eines, das viel Vertrauen braucht, denn im Zirkus dreht sich vieles um Vertrauen und Risiko. Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und in die der Partner*innen. Und das Vertrauen der Zuschauer*innen in die Akrobat*innen, wenn beispielsweise einer mit einem anderen auf seinen Schultern auf uns zuläuft und wir nicht nur von der Körperbeherrschung fasziniert sind, sondern gleichzeitig die Gefahr ihres Verlusts nie ganz ausschließen können.

Unterschiedliche Variationen an Zweier- und Dreier-Konstellationen sind keine Demonstration einer ästhetischen Vielfalt, sie konfrontieren eher damit, wie dieselben Bewegungen je nach dem Gender, der kulturellen Prägungen oder einfach der Tageslaune anders wahrgenommen werden können. Der Blick verändert sich, wenn ein körperlicher Kampf zwischen Frau und Mann stattfindet, statt zwischen zwei Männern. Dass die Frau im gleichen Maße nackt oder bekleidet ist wie die Männer, erschafft – je nach eigener Geschichte – eine Gleichheit oder macht die Ungleichheit noch größer. Dieselben Bewegungsabläufe haben eine völlig andere Bedeutung, wenn jemand einen körperlichen Angriff selbst provoziert, statt ihm zu widerstehen. Ob eine Person von zweien getragen wird oder zwei Personen von einer, stellt mehr dar als eine rein geometrische Formation.

Die Performer*innen, die aus der strengeren körperlichen Trainingstradition des Zirkus kommen, spielen weniger mit Mimik und Gestik oder subtilen Ausdrücken der Körperlichkeit. Es ist kaum zu sehen, was in ihrem Inneren abläuft. Sogar in dem Solo von Mijin Kim, wenn sie sich mit einer explodierenden und schonungslosen Energie dem Publikum annähert. Während sie den Raum umkreist steht sie manchmal kurz still und hebt die Arme, als ob sie einen Spiegel hochhält und uns mit unserem eigenen Blick konfrontieren will. Ihr starrer Blick ist nicht fehl am Platz, denn es geht darum, wie sich das Formale, das innere Erlebnis gestaltet und nicht, was die Akrobat*innen persönlich vermitteln möchten. Auch ein Spiegel kommentiert nicht. Nicht nur die Bewegungen und Beziehungen auf der Bühne, auch die Erzählung des Stücks trägt eine Symmetrie in sich. Und gleichzeitig die Unmöglichkeit eines perfekten Spiegelbilds. Es nimmt sein Ende genau dort, wo es angefangen hat. Nur ist nichts mehr so, wie es vor knapp einer Stunde war. Die ruhigen, neugierigen Blicke der Zuschauer*innen am Anfang sind jetzt voller Verwunderung. Die ordentlichen Anzüge der Performer*innen sind nun verschwitzt.

“My Body is Your Body” ist nach dem Stück “Surround” der zweite Teil einer Trilogie, die sich mit dem Verhältnis von Geometrie und Politik beschäftigt und sich an der Schnittstelle von zeitgenössischem Tanz und Zirkus befindet. Beide Disziplinen sind in ihrer Offenheit für hybride Formen verwandt und zeitgenössischer Zirkus experimentiert immer mehr mit der Sprache von Tanz, Theater und Performance Art. Der Unterschied liegt eher in der Positionierung und im Ausdruck des Körpers. Gefragt nach einem Unterschied zwischen Tanz und Zirkus, sagt Tim Behren, dass Zirkus sich eher mit Vertikalität, mit der Höhe, beschäftigt und Tanz mit der Perspektive im Raum. “My Body is Your Body” arbeitet mit beiden Linien, dem Horizontalen wie dem Vertikalen. Der Akt von Balance, Präzision und Hochkonzentration und der Blick aus der Höhe sind mehr als Zirkusmittel, die sich dem Tanz unterwerfen, sie erzählen eine eigene Geschichte der sozialen Choreografie – ein vom Tanz viel erforschtes Thema.

Der Unterschied zwischen den beiden künstlerischen Traditionen zeigt sich an jenem Abend eher im Verhalten des leicht zögernden Publikums, das die Entlastung nach einem Moment der Hochspannung oder die Faszination von der Verwirklichung eines Sprungs, der unmöglich erscheint, mit Applaus zelebrieren möchte, aber laut dem Verhaltenskodex des Theaters und Tanzes eher still bleibt. Aber genau das ist das Besondere am Zirkus, dass die Faszination mitexistieren und lautstark zum Ausdruck gebracht werden darf. Und diese Faszination und die Intensität der Uremotionen hat das Potenzial, komplexe Themeninhalte für ein sehr diverses Publikum zugänglicher zu machen. Overhead Projects Verständnis von Tanz und Zirkus und die Fähigkeiten seiner Performer*innen sind eine Bereicherung für die Anhänger*innen beider Disziplinen.