Durchlässig und hybrid: In „Strange Songs“ an den Sophiensaelen erzeugt Claire Vivianne Sobottke zeitgemäß uneindeutige Körperbilde
Nymphe, Amazone, Aufreißer, Punk oder Girlie: Die verschiedensten Personae verkörpert Claire Vivianne Sobottke in ihren Performances. Mit “Strange Songs” fügt sie ihrem Rollenrepertoire nun auch die körper-stimmliche Nachbildung gängiger musikalischer Genres hinzu – als Operndiva, Songwriterin oder Rapperin.
Imitation ist bei Sobottke nicht das Ziel, sondern die Dekonstruktion der musikalischen wie darstellerischen Vorbilder. Die Klänge eines Lamento, das sie im Eisbären-Wolfshunde-Kostüm in einem Mini-Gewächshäuschen auf der Bühne absolviert, verzerren ihr Komponist und langjähriger partner in art Tian Rotteveel und sie ins Gerade-noch-Erkennbare. Mit eingespieltem Kuhgemuhe und Schafsgeblöke ironisieren sie das Pathos des Klagegesangs, dessen Text Sobottke so unverständlich fetzenhaft singt als sei der Radioempfang gestört. Auch die Orgelmelodie weht nur wie von fern herüber und wird alsbald elektronisch überformt. Der V-Effekt durchzieht die Show: Sich mit wenigen Tönen auf dem Keyboard begleitend, übersteigert Sobottke die entrückt-beseelte Songwriter-Manier von Björk bis Norah Jones, mit hingehauchten, sich gleichwohl waghalsig hinaufschraubenden oder herabstürzenden und gefühlt etliche Oktaven umfassenden Gesangskaskaden.
Mühelos kreuzt Sobottke die Stereotype: Wenn sie zu fast atonal anmutenden Bläserklängen hingebungsvoll „look at the stone that I hold in my hand“ schmettert, zugleich den genannten Stein mit einem Schlagbohrer traktiert und dabei lasziv über dem Werkstück kniet, resultiert diese Kombinatorik in einem faszinierend androgynen Körperbild. Auch stimmlich wendet sich Sobottke gegen eindeutige geschlechtliche Zuordnungen: Säuselt sie eben noch ein verhuschtes “This is the rhythm of the night, oh yeah”, schleudert sie fast ansatzlos ein druckvoll-wütendes “This is shit” hinterher.
Musik wird so zur Leibessache. Sobottkes Körper ist in ihrem choreografischen Konzert ein sensorischer Empfänger für unterschiedliche Rhythmen, Klänge und Bewegungen, eine Membran für affektive und somatische Zustände – und zugleich das Instrument, auf dem sie virtuos die Register wechselt. Durchpulst und ausströmend, empfangend und erzeugend: In diesem Wechselspiel entsteht ein aufreizend durchlässiger (und damit ein zeitgemäß theorieaffiner) Körper. Jede*r Sänger*in weiß, dass der gesamte Organismus an der Klangerzeugung beteiligt ist – aber zu sehen bekommt man das als Zuschauer*in eher selten in derartiger Deutlichkeit wie bei Sobottke. Tief aus dem Unterbauch kommt der Sprechgesang, dessen Rhythmus sie mit ruckhaft pressenden Handbewegungen in Hüfthöhe unterstützt. Von ihrem Atem zuckend hin- und hergeschleudert, formt sie aus dem stoßweisen Luftstrom nur halb verständliche Worte, spielerisch ein “irregular” in “miracular” transformierend. Die Spitzen einer angedeuteten Sopranarie versetzen die mittlerweile (wie irgendwann immer) entkleidete Sobottke in einen spin, der sie kinderhüpfend und brüstewackelnd über die schmale Bühne in der Kantine kreiseln lässt.
Eine Stunde lang gibt Vivianne Sobottke in „Strange Songs“ derart die Alleinunterhalterin. Bisweilen setzt sie sogar Stilmittel der Stand-up Comedy ein: Mit breitem Südstaatenslang mimt sie den dude, der an einer Raststätte ein girl beäugt, das für ihn die Beine öffnet: “What do you think she had under that skirt?”, fragt Sobottke mit einem die Rollendistanz markierenden verschwörerischen Lächeln. “Pussy?”, fragt ein zur Antwort aufgeforderter Zuschauer. “No! It starts with a d, ends with a k”, und mit einem High Five belohnt sie lachend die spontan-spaßige Antwort eines anderen Publikumsmitglieds: “Duck!” Die Ente – ein neues primäres Geschlechtsmerkmal. Auch Tino Sehgal, der in den Zuschauerreihen sitzt, wird in ihre Improvisation einbezogen, als Tino Schnihl, Bruder von Marina Abramofisch – ein derb-charmanter, selbstironischer Humor eignet Sobottke, der das hochernste Anliegen einer Recherche zu Klang, Sprache und Tanz angenehm leger herunterkocht. Ambivalenz ist alles.
Und während Sobottke noch ihre Verwandlungskünste präsentiert, tritt in meiner Wahrnehmung eine gegenläufige Beobachtung in den Vordergrund: der Eindruck, tief ins Sobottke-Kontinuum eingetaucht zu werden. Einige ihrer Arbeiten habe ich in letzter Zeit gesehen, und mit “Strange Songs” verstärkt sich der gefühlte Effekt, zu verschiedenen Anlässen eine einzige durational performance zu sehen. Auch, weil sich die Claire Vivianne Sobottke selbst zitiert – in “Strange Songs” etwa mit einem Ausschnitt aus dem Solo, das sie für Christoph Winklers Witch Dance Project in den Sophiensaelen erarbeitet hat. Auf einem Schlagzeughocker bounct sie haareschüttelnd auf und ab, zu eingespielten Drums ein Punk-Manifest herausschreiend – “Don’t fuck with us!”. Sollte ich mich verschaukelt fühlen durch Sobottkes Samplen und Recyclen älterer Materialien? Nein, denke ich angetan: Sie hat die Kunst der Verkörperung auf eine neue Stufe gehoben, sie übt Einheit in der Vielheit – und imitiert sich selbst.