Zehn zeitgenössische Hexentänze versammelt das Witch Dance Project in den Sophiensælen.
Ruhelosigkeit kündigte Mary Wigman Mitte der
1920er an, dass sich ein neues Werk seinen Weg bahnen wollte. Ihre Hände
krallten sich so gierig in den Boden, als wollten sie Wurzeln schlagen,
so beschreibt es die deutsche Ausdruckstänzerin in ihrem Buch “Die
Sprache des Tanzes”. Gepeinigt über die Maßen, habe sie das Andrängende
in eine Form bannen müssen. Das Ergebnis, der “Hexentanz II” aus dem
Jahr 1926, ist eines der berühmtesten Wigman-Soli. Perfekter Stoff für
eine Tanzfonds Erbe-Förderung: Zehn Reinterpretationen waren nun im
Rahmen des Witch Dance Project an den Sophiensælen zu erleben.
Eingeladen hatten zu dem explizit queer-feministischen, postkolonialen
Drei-Tage-Festival mit Performances und wissenschaftlichen Beiträgen der
Choreograf Christoph Winkler, die Künstlerische Leiterin der
Sophiensaele, Franziska Werner, und die Dramaturgin Elena Polzer. Fünf
der zehn Choreograf*innen haben ihren kreativen Hauptsitz in
Deutschland, fünf reisten an aus Kanada, dem Libanon und Indonesien, von
der Elfenbeinküste und Fiji an. Klug ist diese Auswahl: Bietet allein
schon Wigmans “Hexentanz” reiches Material für eine zeitgenössische
Auseinandersetzung, so vervielfältigten sich die möglichen Thematiken
und Ästhetiken der Auftragsarbeiten durch die Breite der kulturellen
Hintergründe. Die Einladungspolitik zeigt zudem eine Umkehrung der
Einflussnahme an: Mag der Ausdruckstanz Anfang des 20. Jahrhunderts auch
eine genuin europäische Entwicklung gewesen sein, so ist er stark von
afrikanischen und asiatischen Einflüssen geprägt. Auf die Ursprünge von
Wigmans “Hexentanz”- die Maske im japanischen Nô – wies die
Tanzhistorikerin Susan Manning in ihrem Vortrag hin.
Instinkthaft oder formstreng?
Wigman sah ihre Hexe als eine erdgebundene Kreatur mit ungebändigten
Instinkten, zugleich Getier und Menschenfrau. Als formstrenge
Schöpferin, die das wilde Elementarweib choreografisch zähmt, so feiert
sich Wigman in ihrer schriftlichen Reflexion zum “Hexentanz”. Ambivalent
wie diese Selbstwahrnehmung ist auch die Einordnung des Solos in der
Forschung: Die Frau als Maskierte entziehe sich dem Blick und der
Verfügung eines männlichen Zuschauers; andererseits bestätige Wigman das
Klischee der Frau als triebhaftem (deutschem) Naturwesen. Subversion
von gängigen Frauenbildern und Affirmation einer national-faschistischen
Ästhetik halten sich die Waage.
Spannend im Vorfeld war daher die Frage, welchen Aspekt der Vorlage die
Choreograf*innen aufgreifen würden. Wie konzipieren sie die Hexe?
Verwenden sie eine Maske? Wie gehen sie um mit dem Widerstreit zwischen
ungehemmtem Drang und strikter Form in Wigmans Solo?
Claire Vivianne Sobottke (Deutschland): Radikal zeitgenössisch interpretierte Claire Vivianne Sobottke das Hexenhafte als weibliche Power, frei nach den US-frauenbewegten Witches, einer Truppe theatral gegen männliche Institutionen agierender Aktivistinnen der 1960er Jahre. (Ein Film im Rahmenprogramm, „She’s beautiful when she’s angry”, bettete die Performances in die Geschichte der Frauenbewegung ein.) Sobottke zeigt in ihrem Solo „In The Woods” eine Reihe widerständig-subversiver Frauenfiguren: in Punkrock- und Riot-Grrrl-Pose hüpft sie auf und ab, “don’t fuck with us” brüllend; sie zertrümmert mit einem Baseballschläger eine Gipsplatte, schießt wie eine Amazone nackt Pfeile über die Bühne und saugt lasziv an Schneckenhäusern. Wigmans subversive Anteile geben die Richtung von Sobottkes Solos vor, und nicht nur ihre Bewegungen enden als Zitat: Den Wigman-Satz “My Body Is My Instrument” schreibt Sobottke auf ein Stück Stoff, das so exotisch golden-braun glänzt wie die Toga der Tanzpionierin im “Hexentanz”. An Wigmans “Drehmonotonie” erinnert Sobottkes forschender Ansatz, Drehungen zu modulieren, indem sie Steine in die Hände nimmt und zulässt, dass deren Gewicht ihren Körper in unrunde Bahnen lenkt. Mit Wigman durchsetzt, aber selbstgedacht, ungebärdig, aber formal schlüssig – Sobottkes Solo ist eine gelungene, zugleich eigenständige und originalgetreue Umdeutung von Wigmans “Hexentanz”.
Dana Michel (Kanada): Ganz eigen interpretiert auch Dana Michel die Vorlage, Auf einem vierrädrigen Untersatz kniend, den nackten Oberkörper wie eine Club- oder Trancetänzerin wiegend, versunken summend und in der Beinlosigkeit an Versehrte aus uns fernen Kriegen erinnernd, durchbricht sie im wörtlichen Sinne die Konventionen: Mit rudernden Armen schiebt sie krachend die aluminiumbebeinten Stuhlreihen aus dem Weg, die ein Konferenzsetting andeuteten. Als Hybridwesen, das bestimmt wenngleich sanft widerständig agiert, ist das eine sehr besondere, auch anrührende Version einer ‚Hexe‘.
Indigene Gendernauten
Nicht Hybride sondern eine Gendertransformation inszenieren sowohl
Darlane Litaay und Melati Suryodarmo, die indonesischen Tanztraditionen
nachspüren.
Melati Suryodarmo (Deutschland/Indonesien): In Braunschweig unter anderem bei Marina Abramović ausgebildet, setzt sich Melati Suryodarmo in “Your Otherness – I’ve Never Been So East” (laut eigener Aussage ausnahmsweise) in Beziehung zur indonesischen Tanztradition. Ein Bündel Rohrstöcke aufsammelnd, aus denen sie zu Beginn abstrakte geometrische Muster und Wege auf dem Bühnenboden ausgelegt hatte, ruft sie nach einer “mother” – den performativen Übermüttern Wigman und Abramović? Elektronische und Gamelan-Klänge unterlegen dann die Abfolge von im Schreiten ausgeführten traditionellen Handgesten. Im indonesischen Tanztheater vermitteln sie oft eine narrative Bedeutung; hier sind sie vielleicht nur noch Form – Näheres geht aus der Präsentation nicht hervor. Auf jeden Fall lässt die Expressivität der Hände an den ebenfalls um Bedeutungsvermittlung bemühten Ausdruckstanz denken. Suryodarmo nimmt auch das Motiv der Maske auf: Einen eleganten schwarz-goldenen Mantel umwerfend, setzt sie sich eine rotlackierte Maske auf, die mit ihrer langen Nase, dem Schnurrbart und leicht nach unten gezogenen Mundwinkeln wie ein blasierter Kaufmann oder Lehrer aussieht; ihr Schreiten wird männlicher, der Ausdruck theatraler. Durchs Dunkel saust dann sirrend ein Rohrstock. Vielleicht eine Selbstgeißelung im Stil Abramovićs. Oder eine (Hexen-)Austreibung der Übermütter?
Darlane Litaay (Indonesien): Als Verwandlung von einer Frau in einen Mann gestaltet auch Darlane Litaay sein Solo “Rider”. Im Bastrock auf der Bühne sitzend, auch durch die an der Stirn getragene papuanische Netztasche als Frau markiert, scheint er mittels Handauflegens und Ssss-lautenden Ausatmens ein Ritual an sich selbst auszuführen. Wie eine Opfergabe legt er dann vor einer auratisch in Licht getauchten bastbebüschelten Maske den Rock ab, sich langsam auswickelnd, und bringt einen überlangen Penisköcher an. Ich muss an die Phalloi im griechischen Theater und der Commedia dell’arte denken, auch wenn diese sich anderen als indonesischen Traditionslinien verdanken. Leise klimpert zu den Kontraktionen von Litaays Unterbauchmuskeln das Muschelgehänge zwischen seinen Beinen, klappert lauter, als er pferdeartige Sprünge auf einem Bein ausführt. Unvertraut mit den papuanischen Traditionen in Tanz und Schamanismus oder der Bedeutung von Pferd und Reiter in der indonesischen Kultur, beeindrucken mich Darlane Litaays konzentrierte Präsenz und seine Annäherung an Wigmans Thematik des Gender-Mischwesens aus der ihm vertrauten Kultur heraus.
Rodrigo Garcia Alves / Studio Disorder (Deutschland/Brasilien): Transsexuell-traditionell konnotiert ist auch Rodrigo Garcia Alves’ “Roots Bloody Roots” mit Pêdra Costa als Performer*in. Ein Gebinde aus Schnüren, Knoten, Perlen (soweit aus der letzten Reihe zu sehen) auf der Schulter ist die einzige Bedeckung; zu den schweren Sambatrommelschlägen von Sanni Est schreitet, hüpft, stolziert, kriecht Costa über die Bühne, entfesselt und anrührend zugleich. Mit einem Pflasterstein auf dem Rücken wirkt er wie ein Sisyphos, beschwert von der Tradition. Behaart, bebaucht und mit Lockenmähne erinnert mich der nackte Körper (in Transition, wie in der Abschlussdiskussion zu erfahren ist) an eine männlich geprägte Figur des erdig-triebhaft Ungebändigten: an Pan. Wir sind noch immer den dämlichen Dichotomien verfallen, geht mir nach den schamanisch-genderneutral(er) wirkenden Performances von Darlane Litaay und Melati Suryodarmo durch den Kopf: Im westlichen Kontext ist die Hexe eindeutig weiblich konnotiert, Pan männlich. Vielleicht ist Nijinskys androgyner Faun als ziegenmenschliches Zwitterwesen im Tanz eine geeignetere Vergleichsgröße als der mythologische Wald- und Hirtengott oder die mit Dämonen im Bunde stehende Zauberfrau.
Emotional enthaltsam oder überüppig
Da ich den zweiten Abend mit Performances von Christine Joy Alpuerto Ritter, Nadia Beugré und Melanie Jame Wolf
verpasst habe, bleiben nach diesen dem ‚kulturellen Hintergründen‘
verschriebenen Stücken noch zwei Hexentänze, die das Spektrum möglicher
Emotionalität weit aufreißen: von Danya Hammoud und Jahra Wasasala.
Danya Hammoud (Libanon): Liegend zergliedert Danya Hammoud ihre Körperform, verdreht die Schultern im Verhältnis zu den Beinen, bis man keine einheitliche Figur sondern kubistische Einzelteile zu sehen meint. Dann hebt sie einen Unterarm, der wie ein eigenständiges Dingwesen wirkt. Gruselig in der Wirkung, aber ohne narrative Intention vorgeführt. Wie ihren Körper analysiert Hammoud auch Wigmans “Hexentanz”: Vom Sitzen ins Stehen, das ist die grundlegende Bewegung, welche die Libanesin nachvollzieht. Verlangsamt und ihrer dynamischen Akzente entledigt, probiert sie Wigmans ikonische Bewegungen: die zum Publikum gereckten Handflächen mit gekrümmten Fingern, die im Sitzen langsam zur Seite gedrückten Knie. Doch die Hand zittert nicht, die sich öffnenden Oberschenkel und weit ausgestellte Oberarme wirken weich abgerundet statt spitz – Hammoud nutzt das Wigman’sche Vokabular, um damit ihre eigene Bewegungspraxis zu kontrastieren und überformen. Auch die Maske scheint bei ihr auf: im unbewegten Gesicht, das den berühmten Abschlussblick ins Publikum nachahmt, wenn auch in ruhiger Gelassenheit statt wilder Drohung. Hier ist der Ausdruck der Reflexion gewichen.
Jahra “Rager” Wasasala (Neuseeland / Fiji): Ganz auf
die expressive Seite schlägt sich hingegen Jahra “Rager” Wasasala.
Perfekt durchgestaltet ist ihr Solo, virtuos vorgeführt, und doch wirkt
es durch den narrativen Gehalt und die dramaturgische Chronologie
konventionell. Oftmals scheinen Bewegungsabläufe einem Action-Film
entlehnt: Die umwerfend präsente Tänzerchoreografin und
Spoken-Word-Aktivistin von den Fijis rollt Energiekugeln zwischen ihren
Händen, würgt über einem Tonbecken Worte hervor als hätte sie einen
Zauber verschluckt, findet als anfangs stumme Frau zu ihrer Sprache, die
allerdings eine Eigenkörperlichkeit hat und die miederbekleidete Figur
hin- und herwirft als sei’s eine Puppe. Die Ambivalenz von Weiblichkeit
ist hier in den Gegensatz von belebt-unbelebt verrutscht – sicher eine
ungewollte Konnotation.
Ihre Energie aber ist so umwerfend wie die des ganzen Projekts; die
beiden Festivaltage mit ihren Einblicken in sieben (statt insgesamt
zehn) performative Universen hinterlassen mich auf positive Weise
ruhelos. Einem sich andrängenden Vorsatz sollte ich vielleicht eine Form
verleihen – und mehr Hexe wagen.
Weitere Trailer auf http://tanzforumberlin.de