„Schwanensee, Patrice Bart © Yan Revazov

Das Schwelgen der Schwäne

Zum 200. Mal zeigt das Staatsballett Berlin Patrice Barts “Schwanensee

Was soll man da jetzt noch dazu sagen? “Schwanensee” – Klassiker der Klassiker. Perfekt die Kombination aus Handlungsballett und reinem Tanz. Grandios Tschaikowskys Komposition. Schier endlos die Abfolge von Bravourstücken, in denen von der Primaballerina bis zu den Corpsmitgliedern ein komplettes Ensemble glänzen kann. Sahnetortengleiche Überfülle bietet auch das Libretto: ewige Liebe, Verführung und Verrat, wenn Prinz Siegfried seine weiße Odette liebt, aber vom zauberkundigen Premierminister Rotbart mit einer schwarzen Odile getäuscht wird. Märchenhafte Szenen am See folgen der unbeschwerten Tändelei im Ballsaal, und am Ende steht der Tod. “Schwanensee” ist ein Longseller – und ein “Schwanensee” ist denn auch die am längsten gespielte Produktion im Repertoire des Staatsballetts: 1997 kam die Version des französischen Choreografen Patrice Bart an der damaligen Staatsoper heraus. Nun erlebte sie ihre 200. Vorstellung.

Als Gast für die Titelpartie hat sich das in der ersten Reihe eher schmal besetzte Staatsballett fürs Jubiläum die Wiener Primaballerina Liudmila Konovalova eingeladen. In der technisch wie darstellerisch herausfordernden Doppelrolle der Odette/Odile debütiert sie in Berlin – als Solistin unter Vladimir Malakhov tanzte sie hier bereits vor knapp zehn Jahren in Barts “Schwanensee”. Nun kann sie als Odile mit glänzender Präsenz ihr Können beweisen: Sie lockt und lehnt ab, lässt hinter Rotbarts Rücken die Blicke blitzen und lacht zeigefingerzuckend und siegestrunken über Siegfrieds tumben Schwur. Konovalovas Beinarbeit ist rasant und messerscharf, das Virtuosenwagnis der 32 Fouettées nimmt sie mit Aplomb. Lautstark bejubelt das Publikum, dass die Auswärtige hier liefert, was von ihr erwartet wird in diesem Spitzenpart.

Konovalovas Darbietung der Odette allerdings kann mit der Glanzparade als Odile nicht mithalten. Gerade anfangs wirkt sie als weißer Schwan seltsam abwesend, die Linien brüchig, der Kopf schief hinter den Arm geklemmt. Statt schmelzende Sanftmut in den Ausdruck zu legen, geht sie den äußerlichen Weg und verlängert die Balancen, streckt die Posen bis fast über den Takt der Musik hinaus. Aber ja: Möchte man monieren, dass ihre Arabesques penchées nicht immer die 180 Grad erreichen, dann entspricht das verwöhntem Kindertrotz angesichts der übervollen Bonbonniere. Die Rolle ist ein schweres Stück Arbeit an der im klassischen Ballett erstrebten Leichtigkeit. Lyrische Anmut entfaltet Liudmila Konovalova erst im zweiten der weißen Akte. Ihr Prinz hingegen, Dinu Tamazlacaru vom Staatsballett, ist von Beginn an darstellerisch auf der Höhe seines Stimmungstiefs. Abwesend schreitet er umher und starrt melancholisch aus dem Bühnenrahmen. Anfangs kommt der Deprimierte in den Sprüngen kaum vom Boden weg – als Verliebter hebt er richtiggehend ab.

Personell ist dieser “Schwanensee” insgesamt doch recht rund: Alexej Orlenco gibt einen eleganten Rotbart, Kévin Pouzou einen liebenswerten Freund und Elena Pris, die hier bereits aus der Solistenriege ins Charakterfach zu wechseln scheint, lässt ihre Ränke schmiedende Mutter kalt funkeln wie eine Disney-Eiskönigin. Durchgehend solide ist die Rollendarstellung – was nicht immer der Fall ist am Staatsballett, das seit Polina Semionovas Weggang 2012 noch immer am Mangel charismatischer Bühnenpersönlichkeiten krankt. Wirklich ergreifend indes ist des Prinzen Leid an den höfischen Zwängen und seiner Übermutter oder auch Odettes Liebesweh und ihr Aufbäumen gegen Rotbart nicht. Auch der schlussendliche Selbstmord Siegfrieds, effektvoll im über die Rampe stürzenden Nebel inszeniert, lässt eher kühl. Liegt’s am Märchenstoff und veränderten Sehgewohnheiten? Den Nostalgiefaktor muss man mögen, wie ihn auch die Jugendstil-Décors von Luisa Spinatelli vermitteln. Oder ist’s das technisch wie darstellerisch Gebotene, das trotz hohem Niveau nicht das Erwartbare überschreitet? Die im Ballett stets erstrebte (und meist nur erhoffte) Perfektion, die harmonische Mischung aus mühelos wirkender technischer Beherrschung und der daraus resultierenden Freiheit für empfundenen Ausdruck (oder: der Moment, in dem der Unterkiefer aufklappt und der Atem stockt), wird hier von der ersten Riege nicht erreicht.

Die eigentliche Bewunderung gilt denn auch einmal mehr den Solist*innen und dem Corps des Staatsballett, die ungeheuer souverän agieren. Aus den immer altbacken anmutenden Nationaltänzen ist nicht viel Überraschendes herauszuholen, aber sie wirken bei Patrice Bart und dem Staatsballett immerhin apart. Eine wahre Augenweide sind die weißen Szenen mit ihren formal strengen Bodenwegen und Ensembleformationen wie Rauten, Spiralen, Kreisen – bei denen sich auch Patrice Bart an der für viele verbindlichen “Schwanensee”-Version von Marius Petipa und Lew Iwanow aus dem Jahr 1895 orientiert. Bei dem Franzosen, der eng dem Pariser Opernballett verbunden war, wiegen sich die Körper im Takt, müssen die Schwäne nicht nur keusch den Kopf neigen und vertikal die strenge Schule exerzieren, sondern sie dürfen sich auch schwelgerisch mit dem Oberkörper in die Bewegung lehnen. Und so lässt sich dann doch sagen: Auch wenn es keine atemberaubende Aufführung ist, sehenswert ist diese klassische Fassung mit französischem Flair allemal.