„Le sacre du printemps (2022)“, Alexandre Achour/Diana Anselmo/Saša Asentić/Xavier Le Roy/Scarlet Yu ©Dieter Hartwig

Bewegende Kommunikation

In den Sophiensælen überträgt Saša Asentić gemeinsam mit Diana Anselmo, Scarlet Yu und Alexandre Achour die Partitur von Le sacre du printemps in Bewegungssprache und kritisiert dabei ableistische und klassistische Strukturen, die in Gesellschaften fortbestehen.

Im Jahr 2007 erforschte Xavier Le Roy im Musikstück Le sacre du printemps von Igor Strawinsky – 1913 komponiert für das Ensemble Ballets Russes von Sergei Djagilew – die Bewegungen eines Dirigenten, welcher, von der Partitur ablesend, sein Orchester leitet. In seiner Solo-Performance hinterfragte Le Roy diese binäre Rollenverteilung im Orchester und spielte mit den Formen von Klang und Bewegung. Saša Asentić übernimmt für seine Variation von Le sacre du Printemps diese Idee und verbindet sie mit den Gesten von Gebärdensprachen. Dafür hat er von Anfang an mit Tauben und hörenden Performer*innen und Access-Expert*innen zusammengearbeitet.

Es ist bereits nach 19 Uhr und langsam kommt das Publikum zur Ruhe. Das Studiolicht ist noch an. Fünf Personen erscheinen in Alltagskleidung auf der Bühne, laufen über den grauen, samtigen Tanzboden, der durch vorige Bewegungen an einigen Stellen aufgeraut ist, und nehmen in der ersten Reihe Platz. Saša Asentić tritt gemeinsam mit dem gebärdenden Übersetzer Mathias Schäfer vor das Publikum und erinnert daran, dass vor einem Jahr vier Menschen mit Behinderung von einer Pflegerin in Potsdam ermordet wurden. Systematische Ermordung von Menschen mit Behinderung sind keine Seltenheit, da Ableismus weit verbreitet ist. Es folgt eine Einführung in leichter Sprache in Igor Strawinskys Komposition Le sacre du printemps sowie eine Definition von Partitur und Dirigent*in, an deren Bewegungsabläufe die folgenden Choreografien angelehnt sein würden. Nachdem Saša Asentić und Mathias Schäfer die Bühne verlassen haben, liest Oya Ataman denselben Text von einem Smartphone aus in englischer Lautsprache vor. Anschließend wird das Studiolicht für einen kurzen Moment gedimmt.

Nacheinander stellen Diana Anselmo, Scarlet Yu und Alexandre Achour sich und ihre biografischen Hintergründe vor. Das Teilen der Erfahrungen, die die Performer*innen während des Probenprozesses gesammelt haben, ermöglicht einen Einblick in die Schwierigkeiten und Möglichkeiten, die sich ergeben, wenn Zeichenstrukturen erlernt oder wieder verlernt werden müssen. So seien die Partitur von Strawinsky sowie die Gesten einer*eines Dirigierenden für Diana Anselmo, die von Geburt an Taub ist, zunächst ein „Mysterium“ gewesen, bis sie ein eigenes „Alphabet“ für die Klänge und Bewegungen konstruierte, die „auch für die Gehörlosenkultur Sinn“ ergeben sollte. Für Scarlet Yu sei Xavier Le Roys Choreografie eine Inspirationsquelle gewesen, da sie selbst die Noten nicht lesen konnte und ihr das Ballettstück Le sacre du printemps – wie viele andere „westliche Orchester“ –als bildungsbürgerliches „Symbol hoher Kunst“ aufgrund ihrer gesellschaftlichen Herkunft in ihrer Kindheit in Hongkong nicht zugänglich gewesen war. Beide Performerinnen sahen die Partituren beziehungsweise ihre performativen Interpretationen daraufhin als „Landkarten“. Alexandre Achour studierte, als Kind einer geflüchteten algerisch-jüdischen Familie, die sich an die „französische Kultur [assimilierte]“, bereits mit sieben Jahren klassische Musik, doch wirkte ihm diese stets fremd. Da ihm die Musiknoten „Angst“ einflößten, ließ er sich bei der Auswahl seines Stückteils von der Musik leiten, die bei ihm die „Lust zur Bewegung auslöst[e]“. Die Aussagen in Italienischer und Deutscher Gebärdensprache sind als Transkriptionen auf Zettel gedruckt, die sich das Publikum am Eingang mitnehmen konnte. Zudem wird die Audiodeskription an eine schwarze Wand hinter dem Tanzboden projiziert.

Die drei Performer*innen präsentieren die von ihnen ausgesuchten Stellen der Partitur von Strawinskys Le Sacre du Printemps zunächst einzeln. Sie übersetzen die Musiknoten und Dynamikzeichen in Gesten. Klopfende, geballte Fäuste simulieren Paukenschläge und waagerecht wischende Armbewegungen stehen für Streich- und Blasinstrumente. Die Bewegungen erinnern mich an die Choreografien Isadora Duncans, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts Gefühle in rhythmische, expressive Bewegungen übertragen hatte und so den Ausdruckstanz des frühen 20. Jahrhunderts prägte. Nach ihren Soloauftritten treten die Performer*innen gemeinsam zu dritt, zu zweit und dann wieder einzeln auf die Bühne und interpretieren die ausgewählten Partituren mal mit und mal ohne musikalische Begleitung. Sie kreisen um ihre eigenen Achsen und springen. Sie beziehen sowohl ihre Gesichter, Augen, Münder als auch Zungen ein und unterstreichen somit ihre gefühlsgeladenen Bewegungen, die zwischen intensiven Crescendi, punktuellen Akzenten, scharfen Dissonanzen und reibenden Terzen hin- und herwechseln. Ihre vibrierenden Hände und Blicke, die sie einander zuwerfen, bauen eine Spannung auf und erwecken den Eindruck, dass hier tatsächlich Menschen und Musikinstrumente miteinander kommunizieren, aufeinander Bezug nehmen und sich ergänzen.

Aus der ersten Reihe höre ich eine Stimme aus den Lautsprechern, die das Bühnengeschehen wohl in englische Lautsprache übersetzt, doch kann ich keine Details wahrnehmen. Ich frage mich, wie die Stimme es schafft, diese Vielfalt an Bewegungen wohl in gesprochenen Sätzen zu vermitteln, aber diese Frage stellt sich auch geschriebenen Tanzrezensionen. Gleichwohl sind Partituren ohne Interpret*innen, die sie zu lesen vermögen, „bloß“ Schriftzeichen auf Papier, die womöglich „lediglich“ ästhetische Referenzen auslösen. Übersetzungsprozesse sind stets eine Frage von Perspektive, Auswahl und Interpretation. Sie setzen oft voraus, dass man die Übertragung von Zeichen beherrscht, durch das Lernen von Gebärden und Lautsprachen, von Lesen und Schreiben, von Choreografien und Partituren, von gesellschaftlichen Konventionen und Verhaltensweisen, durch den Zugang zu Bildung. Um der Vielzahl an Übersetzungsprozessen und -hürden gerecht zu werden, hat Saša Asentić seine Variation von Le Sacre du Printemps zusammen mit den Tauben und hörenden Performer*innen und Access-Expert*innen entwickelt. Gemeinsam haben sie die Partituren und Choreografien erforscht, ihr Wissen geteilt, und konnten diese ihrem Tauben, hörenden, Blinden und sehenden Publikum an diesem Premierenabend des 28. April 2022 in den Sophiensælen ableismus- und klassismuskritisch zugänglich machen.

Fotos: „Le sacre du printemps (2022)“ von Alexandre Achour, Diana Anselmo, Saša Asentić, Xavier Le Roy & Scarlet Yu. Performer*innen, linkes Bild v.l.n.r.: Diana Anselmo, Alexandre Achour, Scarlet Yu © Dieter Hartwig


„Le sacre du printemps (2022)“ von Alexandre Achour, Diana Anselmo, Saša Asentić, Xavier Le Roy & Scarlet Yu ist noch heute Abend, am 30. April 2022 um 19 Uhr in den Sophiensaelen zu sehen.


„Le sacre du printemps (2022): Initiiert von Saša Asentić. Auf Grundlage des Originalkonzepts von „Le Sache du Printemps (2007)“ von  Xavier Le Roy. Künstlerische Mitarbeit Alexandre Achour, Diana Anselmo, Saša Asentić, Xavier Le Roy, Scarlet Yu. Performance Alexandre Achour, Diana Anselmo, Scarlet Yu. DGS Verdolmetschung Oya Ataman, Mathias Schäfer. Beratung zur Barrierefreiheit und Taubenkultur Diana Anselmo. Beratung zur Übersetzung Oya Ataman. Sounddesign Peter Böhm. Licht Anja Sekulić. Technische Leitung, Untertitel Rastko Ilić. Audiodeskription Emmilou Rössling, Silja Korn. Produktionsleitung Miriam Glöckler, Stephan Wagner.