„Kabuki Noir“, Gintersdorfer/Klassen © Knut Klassen

Arnd Wesemann zu „Kabuki Noir“, Gintersdorfer/Klaßen

Gastbeitrag von Arnd Wesemann, Redakteur der Zeitschrift „tanz“, im Rahmen der Tanz-Kampagne Watch Me Dance 2018 zu „Kabuki Noir“ von Gintersdorfer/Klaßen im HAU Hebbel am Ufer.

Eine kleine Vorgeschichte: Die bekannte Regisseurin Ariana Mnouchkine gilt gemeinsam mit Peter Brook als Vorbotin eines wahren „Theaters der Welt“. Beide betreiben nicht, wie das gleichnamige deutsche Festival, eine Schau mit Produktionen, die aus allen Winkeln der Welt herbei geschafft werden. Mnouchkines Kollektiv, das Théâtre de Soleil in Vincennes bei Paris, versucht vielmehr ungeachtet der Herkunft, Hautfarbe, Religion, auch ungeachtet des Alters der alten Mythen, ein Theater aller Kulturen zu sein. „Kanata“ heißt der aktuelle Versuch der 1939 geborenen Weltbürgerin, gemeinsam mit dem nicht minder berühmten kanadischen Regisseur Robert Lepage davon zu erzählen, wie Weiße das Schicksal der nordamerikanischen Ureinwohner*innen bestimmt haben. Das Stück, so las sich eine Protestnote am 14. Juli 2018 in der kanadischen Zeitung Le Devoir, beschäftige sich zwar mit der Verleugnung der indianischen Kultur, aber: Es befördere zugleich „unsere Unsichtbarkeit im öffentlichen Raum, auf der Bühne“, denn: „Kein Mitglied unserer Nationen wird an dem Stück teilnehmen“. Heißt: Nur wir Ureinwohner*innen haben das Recht, unsere Belange auszusprechen, nicht Mnouchkine und Lepage. Beide nennen ihr Stück seitdem „Kanata – Épisode I – La Controverse“. Es enthalte „keine beleidigende Äußerung, Verachtung oder Beschimpfung einer Person oder Personengruppe aufgrund ihrer Herkunft oder ihrer Zugehörigkeit oder Nichtmitgliedschaft zu einer bestimmten ethnischen Gruppe, Nation oder Religion.“ Das will man ihnen auch glauben. Denn so verlangt es das Gesetz.

Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen, zwei deutsche Künstler*innen, haben sich gerade ein ähnliches Protestpotenzial an den Hals geschafft. Auch sie betreiben ein – wenn man so will – multikulturelles Kollektiv mit Tänzer*innen und Performer*innen, vornehmlich aus Côte d’Ivoire und Deutschland. Ihre schwarz-weißen Neubetrachtungen von europäischen Klassikern wie „Othello“ oder zuletzt „Nathan der Weise“ sind in der Lage, den Blick auf die „Kunst des weißen Mannes“ aus der Perspektive anderer Kulturen und Temperamente so vorzuführen, dass einem das Gelächter im Gesicht steht. In ihrem nun im HAU (und zuvor am Düsseldorfer FFT aufgeführten) Stück „Kabuki noir“ geht es um eine alte japanische Kunst, um eine gut abgeschottete Tanzform in einem eigens errichteten Nationaltheater in Tokio, gegründet 1603 von einer Frau – der Tänzerin Okumi. Gut 500 Jahre später hat die UNESCO diese episodenreiche, von akrobatischen Kostümwechseln auf offener Bühne beherrschte Bewegungskunst des Kabuki als ein „Meisterwerk des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit“ bezeichnet. Seit 2005 ist diese Kunst also mindestens so heilig wie die im selben Jahr entstandene Allianz des Duos Gintersdorfer/Klaßen mit dem westafrikanischen Duo Gotta Depri/Franck Edmond Yao alias Gadoukou la Star und ihrem quirligen Leib-und-Magen-Übersetzer Hauke Heumann. Wildfröhlich kalauern sie sich durch die Untiefen sämtlicher Vorurteile zwischen Europa und Afrika, stochern im sagenhaften Reichtum hierzulande, dem die Jungs von der Elfenbeinküste einen popkulturellen Bling-Bling-Kult namens Coupé Décalé entgegenwerfen. Mit Eifer wackeln die Hintern provokant vor dem brav-empörten Bürgersinn des Nordens, dem alles, was fremd ist, auch heilig sein darf: der Flüchtling ebenso wie die Mär von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die aus politischer Raison täglich mit Füßen getreten wird.

In „Kabuki noir“ gibt es den berühmten japanischen Blumenweg, auf dem die Performer*innen über die Köpfe des Publikums hinweg in den Zuschauerraum eindringen können. Es gibt bunte Kostüme, versehentlich afrikanisch koloriert, die mit einem Handgriff ihre Gestalt ändern, und es gibt eine Lektion in angewandter Theatergeschichte, die die Kunst des Kabuki auf Samurai-Banden als kleinkriminelle Punks des frühen 17. Jahrhunderts zurückschreibt, als sie den Kimono zum Kampfgewand kürzten und ihre Tanzbewegungen um die afrikanische „Fuca-Fuca“-Geste erweitert hätten. Ein Japaner, Teppei Ozawa, ganz im Hintergrund, hält eine Gitarre und dazu seinen Mund, während die afrikanischen Großkotze als wild stampfende Räuber davon träumen, mit lauwarmer List und tollpatschiger Tücke Gegner und Grenzbeamte zu täuschen. Man kann getrost von der rotzfrechen Aneignung einer uralten Tradition sprechen, von einer imperialen Geste, mit der eine Kunstform verklärt und verhunzt wird, die über Generationen und in festen Familienbanden als Onnagata (Männer spielen Frauenrollen) und Nihon buyo (des klassischen Tanzes) ausgeübt wird. Wüsste man nicht, dass die neunköpfige Gruppe ernstlich Unterricht genommen hat bei einem echten Meister des japanischen Tanzes, bei Toyohiko Fujima (der nicht mal im Programmzettel auftaucht), könnte man getrost von gröbster Beleidigung fernöstlicher Kunst sprechen. Das würde man auch, wenn die im Publikum anwesenden Japaner nicht in Freudentaumel ausgebrochen wären und die Chuzpe der Truppe über alles lobten. Wunderbar, rufen sie, wie auf tiefstem Kabarettniveau eine tatsächlich sagenhaft trainierte Tänzerin namens Jule Flierl die harte Schule für Obertonstimme und Stampftanzeleganz beherrscht und beides dem Publikum zum Gelächter hinwirft. In Kanada ginge das gar nicht. Sämtliche Ex-Pats hätten empört die Bühne gestürmt. In Deutschland, dem gleichmütigsten aller multikulturellen Staaten, wird aus so etwas ein rauschender Erfolg. Wir sollten froh drum sein.