„Eadward´s Ear“, Penelope Wehrli © Matthias Horn

Blinddate mit Sensor

An den Uferstudios übersetzt Penelope Wehrli die Anfänge der Chronofotografie ins heute.

Die Berliner Edition von „Eadweard’s Ear – Muybridge extended“ unter der künstlerischen Leitung von Penelope Wehrli, die am Mittwoch in den Uferstudios Berlin Premiere feierte, überrascht als Versuchslabor, in dem die ästhetische Erfahrung des Tanzes als unmittelbar entstehende Choreografie in den Dialog mit live komponierter Musik tritt.

„Eadweard’s Ear“, in Zusammenarbeit mit dem Musiker und Informatiker Joa Glasstetter, mit Dieter Baumann und Jutta Hell von der Tanzcompagnie Rubato, dem Komponisten Gerriet K. Sharma und den Musiker*innen Stephanie Hupprich, Alejandra Cardenas und Alexander Nickmann entstanden, hält ungeahnte Herausforderungen bereit: Ich gebe zu, dass sich mir das komplexe Geschehen der sechs Sequenzen, die ich fasziniert verfolge, nicht sofort erschließt. Bei Betreten des Studios höre ich einen Besucher, der zu seinem Begleiter sagt: „Schau mal, sehr interessantes Publikum heute Abend“ und komme nicht umhin zu bemerken, dass eben jenes Publikum den ganzen Abend über extrem interessiert und aufmerksam auf das blickt, was wie eine von ihm bezeugte Versuchsanordnung anmutet.

Die große, rechteckige Leinwand, die, schräg installiert, den Raum in der Diagonalen teilt, ist nicht nur Projektionsfläche sondern gleichzeitig Garant dafür, dass sich Tänzer*innen und Musiker*innen nicht sehen können. In der vorderen Ecke des Raumes befindet sich eine Blue-Box, also ein blauer Hintergrund, der in der Fotografie für die Freistellung eines Motives verwendet wird. Dieter Baumann und Jutta Hell entwickeln hier ihre tänzerischen Bewegungen; auf der anderen Seite der Leinwand, in der hinteren Ecke des Studios, befinden sich die Musiker*innen, jede*r von ihnen vor einem Monitor sitzend. Die Kamera, die auf die Blue-Box gerichtet ist und etwa alle vier Sekunden eine Aufnahme der Tänzer*innen macht, liefert das Bildmaterial im Stil von Eadweard Muybridge und Étienne-Jules Marey, den Pionieren der Serienfotografie menschlicher Bewegungsabläufe: So erscheint Dieter Baumann, der das erste Solo tanzt, in fünf verschiedenen Bewegungsstadien auf der Leinwand und weist damit die Inspirationsquelle der Chronofotografie für das Projekt aus. Muybridges und Mareys Bewegungsuntersuchungen der 1870/80er als grafische Notationen von Bewegung dienen in dem Projekt um Penelope Wherli als Ausgangspunkt für die Entwicklung eines Interfaces, mit dem tänzerische Bewegung aufgezeichnet und zeitgleich in eine nicht aus herkömmlichen Noten, sondern aus grafischen Formen bestehende, musikalische Notation übertragen wird.

Die Komplexität der Performance speist sich nicht zuletzt aus diesem theoretischen Hintergrund und der technischen Expertise, mit der die Musiker*innen die fragmentarische Notation der Bewegungsdaten vervollständigen. Die Bewegungsdaten der Tänzer*innen, übertragen durch einen kleinen Sensor und nur minimal aufgezeichnet, sind Impuls für einen Dialog zwischen Tanz, Musik und Komposition, sodass jede Aufführung einzigartig bleibt und zur Edition wird. Indem das Sehen als Wahrnehmungskategorie für Tänzer*innen und Musiker*innen nicht zur Verfügung steht, wird das Hören für Dieter Baumann und Jutta Hell zu einem Parameter, der eine andersartige choreografische Praxis impliziert. Und genau hier liegt die Faszination, die auch nach mehreren Stunden noch vorherrscht im Publikum: Nicht das genaue Verstehen des Interfaces und aller technischen Verfahrensweisen macht den Reiz dieser Performance aus, sondern das Wahrnehmungsexperiment, das dieser Abend bereithält. Durchaus unerwartet ist diese Interaktion von Bewegungen und Klängen, die so anders ist als die tänzerische Bewegung mit Musik.

Ab einem bestimmten Punkt liegt der Fokus klar auf der tänzerischen Bewegung – wie fixiert erwartet man die nächste Wendung, den nächsten Impuls, der den Tanz beeinflusst. Das ruckartige Ausbrechen der Knie beispielsweise oder die Rückbeugen, die den Tänzer*innen-Körper abrupt nach hinten werfen, finden in starkem Dialog mit dem Fagott statt, das immer lauter tönend die Dynamik der Bewegungen noch klarer hervortreten lässt. Aber auch die leisen Momente des Tanzes, in denen ein Streichen des Geigenbogens auf der Haut mit dem sachten Schwanken des Kopfes korrespondiert, fesseln die Aufmerksamkeit. Keine starre Form von Musik und Tanz wird hier präsentiert, sondern eine live entstehende Choreografie. Die frei im Raum wandelnden Zuschauer*innen können eine bemerkenswerte Gleichzeitigkeit von musikalischer und tänzerischer Bewegung wahrnehmen, die der eigentlichen Sichtbarkeit des Tanzes eine besondere Qualität verleiht. Diese Qualität ist tastend, spannungsgeladen und sprunghaft – und auch wenn sich die Wahrnehmung bisweilen überfordert fühlt, ist diese Performance live sichtbare Forschung!

Eadweard´s Ear, noch zu sehen in den Uferstudios am 10., 11. und 12. Februar