„MDLSX“, Motus © Simone Stanislai

MANN, FRAU, MDLSX

Das italienische Kollektiv Motus kommt mit „MDLSX“ zurück nach Berlin, dieses Mal ins Gorki.

Die Arbeit an der Beschreibung des eigenen Körpers: Die italienische Performance-Künstlerin Silvia Calderoni und das Künstler*innenkollektiv Motus, die mit „MDLSX“ bereits bei Tanz im August 2016 zu Gast waren, sind zurück in Berlin und balancieren im Gorki Studio Я virtuos und krachend auf den Grenzen von Autobiografischem und Fiktion.

Ein kleines Mädchen, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt, singt mit durchdringender Stimme ein italienisches Lied. Sie singt ausdauernd, aber so schief, dass das Lachen der Zuschauer*innen irgendwie hilflos klingt, so, als sei es Mittel zur Bewältigung der körperlichen Affizierung, die sich beim Betrachten des Videos unweigerlich einstellt. Dieses Berührtsein von einer Intimität, die über das Persönliche hinausgeht, bleibt während der 80-minütigen Performance erhalten – sie bildet die Architektur dieses außergewöhnlichen Abends.

Als Silvia Calderoni dann die Bühne stürmt, meint man, die Gesichtszüge des Mädchens in ihr wiederzuerkennen. War sie einmal dieses Mädchen? Ihre direkte Präsenz jedenfalls ist eine andere. Sie ist fordernd und laut, die wilden blonden Haare mit Unmengen an Haarspray bearbeitend, sodass dieser süßlich-angenehme Duft im Raum und in der Nase hängen bleibt. Wir sind ihr dabei ganz nah und doch auf Distanz, denn Calderoni, die über weite Strecken des Stücks mit dem Rücken zum Publikum steht, filmt ihr Gesicht, das gleichzeitig auf ebenjene runde, links positionierte Leinwand übertragen wird, auf der auch das Mädchen wieder zu sehen ist und nun mit den Liveaufnahmen überblendet wird. Schonungslos zeigt sie jede Regung, jede Falte und das Intime eines Gesichtes, dass, je länger es sich ausliefert, desto vertrauter wird. Parallel legt Calderoni den Track „Despair“ der Yeah Yeah Yeahs über dieses Bild:

„Don’t despair, you’re there
From beginning, to middle, to end
Don’t despair,
You’re there through my wasted days
You’re there through my wasted nights“

Ja, despair, Verzweiflung.Trotz des Aktionistischen, Nervösen dieser wilden Multimedia-Performance, die Calderoni – immer am Rande der Verausgabung – mit musikalischen, tänzerischen, filmischen und sprachlichen Elementen selbst steuert, gelingt es ihr, zum so schmerzhaften wie poetischen Kern ihrer Arbeit durchzudringen. Mann oder Frau, das ist hier die Frage. Neben dem, was als Persönliches erscheint – also das Zeigen des eigenen Körpers, das Beschreiben des eigenen Körpers („Ich sah aus wie ein Jagdhund“), das Zeigen von alten Familienvideos – zitiert Calderoni immer wieder aus Jeffrey Eugenides Roman „Middlesex“, der 2003 mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet wurde. Es ist kein Zufall, dass sich die Lebensgeschichte, die hier erzählt wird, um die hermaphrodite Hauptfigur Calliope/Cal entspinnt. Die Suche nach einer Geschlechteridentität im Roman wird als langwieriger Prozess zwischen sozialen Verpflichtungen, erniedrigenden Arztbesuchen und Verunsicherung über das eigene Ich offenbar und bis zur Unabgrenzbarkeit mit der persönlichen Geschichte Calderonis verwoben. „Was hält uns zusammen, wenn wir ‚wir’ sagen?“, fragt sie einmal. Das beschäftigt, nicht nur wegen der (politischen) Poetik, die in diesem Satz enthalten ist, sondern vor allem, weil das Wir in diesem Moment und in diesem Raum entsteht. Es ist die große Leistung von Calderoni, dass sie uns unmittelbar miteinbezieht in ein sich verflüssigendes Verständnis von Geschlechtergrenzen, ohne dabei pathetisch oder anklagend zu sein.

Wieder zu sehen: 17. & 18. Februar, 20:30 Uhr, Gorki Studio Я