„Kein Paradiso“, Adam Linder © Adam Linder

Schein oder Nicht-Schein

Adam Linder eröffnet mit „Kein Paradiso“ in der Tanzsparte die Spielzeit des HAU Hebbel am Ufer.

Wieder so eine „Geh doch ins Internet“-Performance. Wär toll, wenn zumindest die URLs im Programmheft mitgeliefert würden. Aber ein bisschen künstlerisches Enigma gilt es anscheinend zu wahren, sonst sähe es eben doch nach Uni aus.

Also den plebejischen Pflichten an der Kunst als Zuschauerin nachgehen und selbst googeln: Was war zwischen Yvonne Rainer und John Cage im Jahr 1981? Hat Rainer je “Why so silent, John Cage?” gefragt. Immerhin ein Treffer: Der Kunstkritiker Jonathan P. Watts schreibt den Satz in seinem Beitrag “Charmed Abstraction” auf dem Blog Sounding East (http://sounding-east.blogspot.de/2016/05/charmed-abstraction.html). Aber vielleicht ist das gar nicht wichtig. Denn auf Verständlichkeit scheint es bei den oftmals verrauschten oder aus einem toten akustischen Winkel eingeworfenen, englischen Phrasen ohnehin nicht anzukommen. “Sprache kein Problem” steht im Ankündigungstext von Adam Linders Deutschlandpremiere “Kein Paradiso” im HAU Hebbel am Ufer (eine spartenübergreifende Koproduktion mit dem Hammer Museum Los Angeles). Könnte Sprache also reine Pose sein? Was immer zwischen Rainer und Cage vorgefallen ist: ein Prop – Bühnen-Lifestyle irgendwo zwischen The Art of Being und The Art of Meaning.

Mit Posen kennt Adam Linder sich aus. Für “Ma Ma Ma Materials” setzte er Repräsentationsposen von der Antike bis heute aneinander, “Parade” war ein Posen-Ballett zu Rezeptionspolitik und Tanzgeschichte, und “Auto Ficto Reflexo” war vielleicht Pose der Pose. Das geheimnisvoll deutsch-italienisch betitelte “Kein Paradiso” ist nicht nur sprachlich, sondern auch was Gesten und Haltungen angeht, wieder reich mit Posen gespickt. Zunächst Shootingposituren in raphaelschen Dreierkonstellationen von Adam Linder, Jennie MaryTai Liu und Stefan Thompson, später mimen sie wiederholt nicht näher einzuordnende Figuren: den Rauchenden, den mit dem Fernrohr, die Megaphon-Frau oder den Voguer etc. – meist im fließenden Übergang zu kurzen tänzerischen Phrasen, die HipHop- und Ballettvokabular drollig-spannungsreich verzerren.

Dabei scheint das Bühnendesign des bildenden Künstlers Shahryar Nashat, Linders prägendem künstlerischen Partner, erst einmal gegenläufig zum Stellungstanz angelegt. Der durch Boden und Hinterwand angedeutete Raum im Raum, die nicht-funktionalen, sprungbrettförmigen Objekte, die Overalls der Tänzer*innen, die Requisiten wie Fächer und Megaphon sind allesamt in blau-grünen Ornament-Mustern gehalten: eine Mischung aus BVG-Polster-Look, ineinander greifenden Orientgeometrien, technizistischer Abstraktion und (beim Heranzoomen) Militaryprint. Der Camouflage-Effekt, der damit entsteht – ein Designer aus dem Publikum nennt es später im Foyer „Tec-Camo“ – , unterstreicht das Posenhafte erst einmal nicht, im Gegenteil: Er ist darauf angelegt, Form zu verschlucken. Das Auge kann nicht anders als im Weichzeichner-Modus gucken.

Und doch sind der Umrissblick und das Schemenhafte, das an der Bewegungsbruchstelle zwischen Umgebung und Körper als artifiziell wirkendes Such-mich-Spiel entsteht, der Pose verwandt. “We don’t mind you being a type not a type”, orakelt das Linder-typische Voice over gegen Ende in einem zu konzeptueller Poesie verdichteten, abstrakten Floskelstottern. Sein oder Nicht-Sein wird zu Schein oder Nicht-Schein. Trendsetter und Trendrunner bilden eine Allianz. Ähnlich wie in “Bastards” von Martin Hansen (Tanzschreiber von letzter Woche) findet Ausdifferenzierung allenfalls in Nuancen statt, das role model ist der kulturelle Klon. Unauffälligkeit ist eine Kulturleistung. Und so werden die Direktiven des Voice over, insofern sie eine Anweisung enthalten, bemüht umgesetzt – so seltsam sie auch klingen: “Spiritualize the geometry”.

Faszinierend ist die formalistische Eleganz und Konsequenz, das Kalkulierte des Spiels. Sich mit dieser Ebene abzufinden, würde vor Ratlosigkeit schützen. Aber dafür hätte Linder dann doch ganz auf Sprache verzichten müssen. Denn, Jonathan P. Watts folgend, ist der Rainer-Cage-Diskurs von 1981 zu spannend und ist die Verbindung zu den Formalismen der Bühne – auch auf der an das Stimmen eines Orchesters erinnernden Sound-Ebene – zu prägend, um “Kein Paradiso” unter rein dekorativen Gesichtspunkten zu betrachten. Watts schildert in einer Cage-Orientalismus-Argumentation einerseits das Ornament als “Verschmutzung der Existenz”, das sich vor die reine Form des Objekts schiebt, andererseits den Vorwurf Rainers, wonach eine Unterdrückung der Bedeutung von Sprache (im Sinn von John Cages Zufallsoperationen) eine Verneinung ihrer eigentlichen Funktion wäre – und in Verlängerung davon des Subjekts als Bedeutungsträger. Linder hat sich bestimmt, darauf kann gewettet werden, gründlich eingelesen in seine 1981er-Referenzen (auch wenn er mutmaßlich andere Quellen hatte). Es wirkt fast versnobt, wenn er sich nicht die Mühe macht, diesen Zusammenhang als Bühnenerlebnis zu erschließen – auch oder gerade, weil er mittels der Ästhetisierung des Diskurs bis ins Dekorative wahrscheinlich sogar die Versnobtheit des Kunstbetriebs adressiert. Irgendwie ist dieses Chamäleon-Dasein der eigenen Arbeit gegenüber aber auch ziemlich genial.