„Our Love Goes to the Absent Performers“, Gintersdorfer/Klaßen ©Knut Klaßen

Die Vermessung der Aufführung

Gintersdorfer/Klaßen kommen einander und dem Publikum mit „Our Love Goes to the Absent Performers“ unter freiem Himmel so nahe wie die Abstandsgebote es zulassen.

Es ist ein wunderbarer Spätsommernachmittag. Im Rahmen der Berlin Art Week finden vom 9.-13. September 2020 viele Performances und Events draußen statt – so wird die Wiese vor dem HAU2 kurzerhand drei Tage lang zur Freilichtbühne. Die vorbeirauschende U-Bahn im Hintergrund verheißt urbanen Charme, die sehr tanzbare Musik vom DJ-Pult lässt vorbeilaufende Passant*innen innehalten und mitwippen, einige meiner Sitznachbar*innen machen es sich rauchend auf ihren Stühlen bequem (ich denke: ohne befürchten zu müssen, jemanden zu stören, denn wir sind luftig voneinander verteilt). Ich hole meine Sonnenbrille hervor und lehne mich zurück. Fühlt sich alles nach Festivalstimmung an, bevor wir daran erinnert werden, dass das Format dieser Performance in erster Linie auf Beschränkung, Sicherheitsmaßnahmen und Unüberbrückbarkeiten reagiert. Kreatives Maßanlegen an eine noch immer den Atem anhaltende Welt: 

5.486,46 Kilometer Luftlinie zwischen Berlin und Abijan. 6.387,12 Kilometer zwischen Berlin und New York. 1,5 Meter zwischen Dir und mir. 3,0 Meter zwischen Performer*innen in energetischer Bewegung und Publikum im Sitzen.

„Our Loves Goes to the Absent Performers“ ist wie vieles, das gerade auf der Bühne, unter freiem Himmel, im Internet oder Eins-zu-eins performativ stattfindet, eine Momentaufnahme. Das Team um Gintersdorfer/Klaßen, der „Stab“: Marc Aschenbrenner, Dalel Bacre, Alexander Cephus, Annick Choco, Hauke Heumann, El Chino, Montserrat Gardo, Carlos Martinez, Ordinateur, Skelly, Franck Edmond Yao alias Gadoukou la Star, Gregor Zoch (wobei im Programm konsequenterweise kein Unterschied zwischen „anwesenden“ und „abwesenden“ Performer*innen gemacht wird) schafft es, sich auf eine charmante Weise mit dem Ernst der Lage auseinanderzusetzen und die Notwendigkeit der Abstands-Bemessung zum choreografischen Tool umzufunktionieren. Denn: „This performance is highly measured“, wie uns Montserrat Gardo verkündet, während Franck Edmond Yao mit Maske und einem 1,5 Meter langem Stab tanzend die Bühne vermisst. Wie choreografisch-künstlerisch mit gebotener Distanz und der Notwendigkeit von Beisammensein umgehen, wie politisch-künstlerisch in internationalen Zusammenhängen arbeiten und in Kontakt bleiben, während die Hälfte der Kolleg*innen nicht reisen darf?

An diesem Nachmittag gibt es Distanz/Balance-Übungen mit dem Publikum. Freiwillige reihen sich mit Maske und desinfizierten Händen auf der Bühne zum Stab-Reigen ein: im Kreis, Abstand haltend mit eingeklemmten Stäben auf den Schultern und zwischen den Rücken und Bäuchen müssen alle aufeinander Acht geben, einander entgegen kommen und ihr Gewicht, den Druckausgleich zwischen einander spüren, damit die Stäbe nicht runter fallen (sonst fliegt man raus und muss zurück auf seinen Platz). Wer bleibt wie lange verbunden? Ein kindliches Spiel wird zum Balanceakt und zur Einübung gesellschaftlicher Krisenzeiten.

Parallelrealitäten: Im Videocall nach Abijan zu Annick Choco erfahren wir die neuesten Pressestimmen zur Rückkehr und der umstrittenen Kanditatur für eine dritte Amtszeit des Expräsidenten Alassane Ouattara. Im Videocall zu Alexander Cephus in New York erfahren wir, wie die Ballroom-Community mit Auftrittsverboten umgeht und trotzdem Wege findet, Empowernment und Community über die Krise hinweg aufrecht zu erhalten. Wie anders lässt sich der Abstand überbrücken als in ruckeliger Internetverbindung? Brücken bauen. HOLD IT! ist hier die Ansage aus New York, und so setzen die anwesenden Performer*innen in übergeworfenen Demonstrationsplakaten zum Catwalk auf der Wiese an… Das hat eine eigene Komik und ist darin schön und traurig und hilflos zugleich, bis ich den Schriftzug im Vorbeigehen deutlich lesen kann:

Is anyone else horrified with the fact that black people are being found hanging from public trees all over America and the police are saying it was suicide

Walk for me, Strike a Pose. Pose, Pause. Eine Denkpause. Ein Innehalten. Ein unsichtbares Ausrufezeichen am Ende und davor steht in Großbuchstaben >>>

Alexander Cephus: 

If you are not working for justice stop calling for peace

NO JUSTICE
NO PEACE
NO JUSTICE
NO PEACE
NO JUSTICE
NO PEACE