Oblio, Muna Mussie ©Nella Aguessy

Es hängt an einem einzigen Faden

Die Deutschlandpremiere von Muna Mussies Performance-Installation Oblio fand am 15. September 2024 im neuen Projektraum Grüntaler 9 der Tanzfabrik Berlin statt.

Das Ladenlokal in der Grüntaler Straße in Berlin-Gesundbrunnen, das bis Juni 2025 eine weitere Spielstätte der Tanzfabrik darstellt, wirkt von außen fast unscheinbar. Durch die zwei großen Schaufenster kann ich vor Beginn der 90-minütigen Performance-Installation Oblio nur schemenhaft erkennen, was sich dahinter verbirgt. Als die Tür sich 16 Uhr öffnet, zeigt sich der intime Raum. Zwischen den beiden Seitenwänden spannt ein dunkelgraues, engmaschiges Netzgewebe in einem Meter Höhe. Dahinter sitzt Künstlerin Muna Mussie auf einem Stuhl und webt mit einer langen Nadel einen goldenen Faden in das Material. Ihr Gesicht ist hinter dem Banner versteckt. Nur das Licht einer Kopflampe scheint ab und zu durch die Absperrung. Muna Mussie trägt einen schwarzen Arbeitsanzug. Um sie herum liegen Garnknäuel und Fadenreste. Auf dem Banner erstreckt sich die Arbeit der letzten zwei Tage: Die Buchstaben R, D, R, Ä, N, G, U, N und G, akkurat und imposant. Die stetige Stickbewegung bringt das Material in ein sanftes Flattern, sodass der goldene Faden im Scheinwerferlicht glitzert. Der Prozess der Vollendung des Wortes wird durch die Soundinstallation Curva Cieca Oblio ኩርቫ ዕውር ምርሳዕ von Muna Mussie und Massimo Carozzi begleitet. Ein Loop choraler Gesänge und flüsternder Stimmen unterstützen die meditative Installation, die mich trotz ihrer Simplizität jeden Stich gespannt verfolgen lässt.

Stich für Stich entstehen die zwei noch fehlenden Buchstaben. Das Wort „VERDRÄNGUNG” glitzert nun endlich auf dem dunklen Untergrund. Mit einem zarten Faden verbindet Muna Mussie die obere linke Ecke des ersten mit der unteren rechten Seite des letzten Buchstabens. Das Wort, an dem sie tagelang mit Geduld und Präzision webte, wurde nun durchgestrichen. Ablehnung.

Verdrängen statt vergessen (ital. oblio – Vergessenheit)? Was wird verdrängt? Wer wird verdrängt? Wer wird vergessen?

Die mehrschichtige Bedeutung des Wortes „Verdrängung” lässt mich auf meinem Heimweg durch den Kiez nicht los. Berlin-Gesundbrunnen ist ein historisches Arbeiterviertel, das nach 1961 durch die Nähe zur Mauer noch „unattraktiver“ und damit bezahlbarer wurde, sodass viele (ehemalige) Gastarbeiterfamilien hier ein Zuhause fanden. Die Gentrifizierung schleicht sich in Gesundbrunnen und ganz Wedding seit Jahren langsam ein und ist doch für die Anwohner*innen spürbar. Ein flatternder, zarter Faden, der Verdrängung durchstreicht.

Die Tanzfabrik hat sich mit der temporären Spielstätte Grüntaler 9 auch den Austausch mit der Nachbarschaft vorgenommen. Laut Eröffnungsflyer dieser Spielzeit möchten sie „Menschen aus dem Kiez einladen, neue Arten von Tanz und Kunst kennenzulernen.” Mit Oblio als deutlichem Auftakt bin ich sehr gespannt, was in den nächsten neun Monaten hier passiert und wie das Ladenlokal wieder zum Leben erweckt wird.


Oblio von Muna Mussie feierte am 15. September 2024 im neuen Projektraum Grüntaler 9 der Tanzfabrik Berlin Deutschlandpremiere.