Eine Brandrede von Jule Flierl
Die Berliner Choreografin Jule Flierl sprach am Brandenburger Tor über ihre Situation als Tanzschaffende Berlins im Angesicht der drohenden Kürzungen der Bundesfonds, aber auch auf Landesebene, wo der Tanz in der Hauptstadt enorm unterfinanziert ist.
Gemeinsam mit dem Bureau Ritter und Joint Adventures / Nationales Performancenetz Deutschland veranstaltet der Dachverband Tanz den Aktionstag „Tanz schafft Zusammenhalt“. Vor dem Brandenburger Tor wird heute demonstriert für eine Stärkung der Tanzszene, der Kultur und der Förderprogramme des Bundes, auch der Deutsche Kulturrat sowie der BBK haben zur Demo heute aufgerufen. Und für die Berliner Szene steht viel – wenn nicht alles – auf dem Spiel: Die bevorstehenden Kürzungen werden die weltweit bewunderte Tanzszene Berlins in den nächsten Jahren vor schier unlösbare Herausforderungen stellen. Das zeigen auch die Banner und Plakate, auf denen die Berliner Tanzschaffenden ihren Unmut zum Ausdruck bringen: „Poor and Sexy won’t do this time“ oder auch „Tanzen braucht Finanzen“ steht. In Vertretung der Berliner Szene, eingeladen vom ZTB e.V., tritt Jule Flierl auf die Bühne. Sie beginnt ihre Rede mit einem von Gesten unterstützten Sprechchor, den sie anleitet.
Wer kürzt denkt zu kurz
Wer kürzt denkt zu kurz
Wer kürzt denkt zu kurz
JETZT wird verhandelt, in welche Richtung sich unsere Gesellschaft entwickelt.
Von der Politik kommen keine Visionen für die Zukunft, stattdessen gibt es Kürzungen.
Die Demokratie steht auf wackligen Füßen- und die freie Tanzszene ist Teil der Lösung!
Tanz ist schön, macht aber viel Arbeit
Ich stehe hier – und mit mir viele anwesende Kolleg*innen heute – nicht nur als Choreografin, sondern auch als Performerin, Unternehmerin, Schriftstellerin, Philosophin, Veranstalterin, Kommunikationsexpertin und Lehrerin. Als ich zu tanzen anfing, konnte ich mir nicht vorstellen, wie komplex meine freiberufliche Arbeit als Choreografin sein wird. Wie arbeite ich? Freiberuflich, kontinuierlich und meist unbezahlt – punktuell werde ich manchmal auch gefördert – für ein Projekt oder eine Aufführung.
Wir sind keine Tanzmäuse oder Hupfdohlen!
Tanz hat eine zentrale Zukunftsaufgabe, um Visionen für den Körper zu entwerfen, im Zeitalter der Digitalisierung und des Klimawandels. Diese Arbeit, mit der wir uns in den öffentlichen Raum einbringen, verdient bezahlt zu werden. Die Gesellschaft hat ein Recht auf geförderte Künstler*innen. Erinnern wir uns, dass in der letzten Runde nur 9% der Projektanträge in Berlin bewilligt wurden. Und nun wird noch weiter gekürzt – in Berlin und im Bund – und das bedroht die jetzt schon am Existenzminimum lebende Gemeinschaft des freien Tanzes. Ein Großteil der freien Tanzschaffenden verdient weniger als 15.000€ brutto im Jahr. Und das in einer der stärksten Volkswirtschaften der EU.
Ich selbst bin in Ost-Berlin aufgewachsen, in den so genannten Baseballschlägerjahren. Rechte Gruppen waren mit Baseballschlägern auf der Straße und in der Schule unterwegs und drohten Gewalt an und übten Gewalt aus. Damals fing ich an zu tanzen und hätte nie gedacht, dass sich dieses Berlin zu einer internationalen Hauptstadt des Tanzes entwickeln würde. Jetzt bin ich seit 15 Jahren Teil der Berliner Tanzszene, sie ist sehr international, ein charismatisches Unikat in der Tanzwelt, sie setzt weltweit Impulse für die Zukunft unserer Kunstform, und sie bereichert nicht nur mein Leben, sondern die ganze Stadt enorm.
Und nun bedrohen die Kürzungen durch die CDU/SPD Regierung dieses neue, weltoffene Berlin. Lieber Joe Chialo, die freie Tanzszene steht für die Vielfalt, die sie so oft beschwören. Nicht nur symbolisch, sondern ganz angewandt und alltäglich. Sie wollen bestimmt nicht in die Geschichte eingehen, als derjenige, der diese organisch gewachsene freie Tanzszene ausgetrocknet hat.
Vielfalt statt Einfalt!
Vielfalt statt Einfalt!
Vielfalt statt Einfalt!
Liebe Claudia Roth – während im Bund bei der freien Kultur gekürzt wird, werden die Mittel bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz erhöht – Schlösser und Gärten. Wir schlagen vor: Investieren sie besser in lebende, heute arbeitende Kunstschaffende! Um die multiplen Krisen, die wir durchleben, bewältigen zu können, brauchen wir vielfältige und inspirierte Stimmen im künstlerischen und gesellschaftlichen Diskurs.
In Menschen investieren, statt zu renovieren!
In Menschen investieren, statt zu renovieren!
In Menschen investieren, statt zu renovieren!
Die glaubhafteste Brandmauer ist die freie Kultur!
In letzter Zeit habe ich viel über das deutsche Grundgesetz gelernt. Die Politik misstraut den Kunstschaffenden – es gibt viele Vorschläge aus der Politik, die sowohl gegen die Kunstfreiheit, als auch gegen die Meinungsfreiheit verstoßen. Meine Kolleg*innen werden verdächtigt, bedroht, eingeschüchtert und ihre Identitäten werden gegeneinander ausgespielt. Kunstschaffende sind im Fokus als potenzielle Feinde der Verfassung. Und mit der so genannten Demokratieklausel, die gerade in Arbeit ist, soll der Verfassungsschutz beauftragt werden, jede geförderte Künstlerin zu überprüfen. Als wären wir kriminell!
Wir sind nicht das Problem, wir sind Teil der Lösung!
Wir sind nicht das Problem, wir sind Teil der Lösung!
Wir sind nicht das Problem, wir sind Teil der Lösung!
In der freien Tanzszene bringt jede Akteurin ihr eigene Biografie mit auf die Bühne. Widersprüche müssen nicht ausgelöscht werden. Wir sind Expert*innen einer Praxis von multi-perspektivischer Arbeit – z.B. bei historischen und aktuellen Fragestellungen. Ich richte jetzt mein Wort an alle politischen Entscheidungsträger*innen: Fördern Sie Tanz als öffentliches Gut, statt zu regulieren! Statt die diversen Biografien meiner Kolleg*innen gegeneinander auszuspielen, fordere ich Sie auf, endlich so intersektional denken und handeln zu lernen, wie wir es in freien Szene seit Jahren üben.
Denn nur Übung macht die Meisterin!
Die freie Szene hat viel dazu beigetragen, dass bspw. Inklusion, Antidiskriminierung, Geschlechtergerechtigkeit und ökologische Produktionsweisen im Alltag und im Denken der Mehrheitsgesellschaft gelandet sind. Ich fordere Sie auf, sich von der freien Szene beraten zu lassen, anstatt deren gesellschaftliche Kraft zu zerstören. Wir möchten dabei sein, wenn die Ziele dieser Gesellschaft neu formuliert werden.
We don’t want to dance / We don’t want to dance
like there is no tomorrow / like there is no tomorrow
We don’t want to dance / We don’t want to dance
like there is no tomorrow / like there is no tomorrow
We don’t want to dance / We don’t want to dance
like there is no tomorrow / like there is no tomorrow
make dance not war!
make dance not war!
make dance not war!
make dance not war!