„Körper“, Sasha Waltz © Bernd Uhlig

Wiedersehen macht Freude?

Mit “Körper” bringt Sasha Waltz ihren als ikonisch erachteten Tanztheaterabend aus dem Jahr 2000 auf die Bühne der Berliner Festspiele

Halbnackte Körper hinter Glas, sich windend wie Gewürm, die Haut vom Kontakt mit der Glasscheibe gedehnt und gequetscht; zugleich der Eindruck des schwerelosen Schwebens, wie eine Schar in Zeitlupe bewegter Wasserwesen. – Das sirrende Sausen zweier mehrmeterlanger Holzstäbe in Drehung, von Clémentine Deluy in die Hüften gestützt und aufgespannt als Masten, an denen wie Segel ihre Zöpfe festgebunden sind. – Zwitterwesen in pompösen schwarzen Röcken, das Gesicht des oberen und den Hintern des unteren Körpers zum Publikum gekehrt. Eine kali-artig vielarmige, leise klirrende Skulptur, wenn Untertassen hinter dem Rücken eines Tänzers gestapelt werden als seien es Wirbel. – Ein Skifahrer im Gurtsystem, der in Zeitlupe die senkrechte Steilwand an der Bühnenrückseite hinab gleitet. Ja, Sasha Waltz’ “Körper” ist auch fast siebzehn Jahre nach seiner Uraufführung ein Stück starkes Bildertheater.

Zu sehen war der von Sasha Waltz & Guests selbst zum “Klassiker” ausgerufene Abend soeben wieder in Berlin, im Rahmen einer umfangreichen Retrospektive, mit der die Kompanie 2016/17 inoffiziell das zwanzigste Jubiläum der Sophiensaele-Eröffnung begeht – oder sich rund um die Berufung von Waltz zur Staatsballett-Intendantin ausführlich in ihrer Heimatstadt präsentiert. Etliche Jahre lag Sasha Waltz mit der Stadt im Clinch, die ihre Kompanie nicht auskömmlich finanzieren wollte, war in aller Welt eher zu sehen als vor Ort. Nun scheint die Versöhnung geglückt, und ob die Retrospektive zuerst geplant war oder ob sie mit einer intern geführten Berufungs-Diskussion in eins ging, sei dahingestellt; in der bislang oft intransparent betriebenen Berliner Kulturpolitik muss man Vieles für möglich halten.

Tanz oder Theater?
Nun kann man also Sasha Waltz’ ältere Stücke einer kritischen Überprüfung unterziehen. Meine Frage beim Besuch der Berliner Festspiele: Ist “Körper” zu Recht ein wichtiger Bestandteil der Berliner Tanzgeschichte? Choreografisch hat sich Waltz damals auf ihre Wurzeln in der Contact Improvisation verlassen. Ästhetisch überhöht wird das Stützen, Abrollen, Heben und Hebeln mal durch eine extreme Verlangsamung, bei der sich die Körper weich umeinander biegen, mal durch einen explosiven Bewegungsimpuls, der die Glieder der Tänzer*innen auf die Bodenplatten krachen lässt. In den Contact-Sequenzen zeigt sich Waltz’ Gefühl für lebendig bewegte Konstellationen, das den Ensemble-Formationen in “Körper” (noch) abgeht: Hier arrangiert sie die dreizehn Tänzer*innen etwa in einer Linie, die um eines ihrer Enden gedreht wird wie eine Girls’ Line im Musical, oder lässt sie mechanisch ruckelnd hintereinander trippeln, bis die Körper sich fast ineinander schieben. Ironisiert wirkt das aus dem Showtanz entlehnte und nur leicht verfremdete Material dabei nicht.

Eher als eine abendfüllende Choreografie ist “Körper” ein Theaterabend mit Tanz – zu sehr steht die bildlich-narrative Komponente im Fokus. Obwohl im Jahr 2000 als Einstand für die erneuerte Schaubühne unter der (kaum fünf Jahre später aus Finanzgründen scheiternden) Kollektivintendanz von Regisseur Thomas Ostermeier, Dramaturg Jens Hillje, der Choreografin und ihrem Ehemann Jochen Sandig entstanden, hat Sasha Waltz keine Schauspieler für die Sprechszenen hinzugezogen – ein Versäumnis, denn wenn Luc Dunberry, Grayson Millwood, Claudia de Serpa Soares und Sigal Zouk-Harder im Verlauf des knapp 80-minütigen Abends jeweils ihre „story“ erzählen, dann sind diese Geschichten über Morgenrituale und Menstruationsbeschwerden, Hypochondrie oder ein komisch missglückendes Date bisweilen kaum zu verstehen. Immer jedoch werden sie begleitet von deiktischen Gesten, die den im Reden benannten Körperstellen einen anderen Ort am Körper zuweisen: Der Anus sitzt angeblich am Ellbogen, die Nase verbirgt sich unter der Achsel und die Brustwarzen werden zu Augen. Beim ersten Mal ist diese Vertauschung überraschend, bei der zweiten, dritten, vierten Wiederholung wird die Idee zur Masche.

Assoziative Anatomie
Irreführend erscheint mir zudem, dass „Körper“ in der Ankündigung als eine anatomische Studie verkauft wird, in der der menschliche Organismus “sowohl als einheitliches System abgebildet, als auch in seine Fragmente zerlegt” sein soll. Eine Systematik erkenne ich nicht, sondern eine frei assoziierte Enumeratio unterschiedlicher Körperaspekte und -bezüge: Masse und Maß, wenn das Gewicht und die Größe dreier Tänzer*innen verglichen wird; Haut und Fett, wenn drei Tänzer*innen Nicola Mascia an Hautfalten packen, bis man die Rötungen sehen kann, oder chemische Zusammensetzung, wenn er dabei mit Wasser übergossen wird, das aus Gelenken und Faltungen zu rinnen scheint; Organe und deren Handel, wenn Takako Suzuki und Sigal Zouk-Harder schwarz umrandete Hautstellen mit einem Preisschild bekleben; Gender und Intersubjektivität, wenn sich Claudia de Serpa Soares und Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola, einander anblickend, in einer Scheibe spiegeln, die ihre Gesichter und Oberkörper ineinander überblendet.

Unterlegt hat der Komponist Hans Peter Kuhn die lose Szenenfolge mit einem Klangspektrum, das ich “Industrial Manufactum” nennen möchte: Klackern, Reiben, Sägen und Rattern, mal ein Akkordeon oder tropfendes Wasser, dazu Synthieflächen und Basspulsieren. Die Bühne der Berliner Festspiele ist mit schwarzem Stoff ausgehängt, anders als damals an der Schaubühne, wo “Körper” im amphitheaterartigen Betonhalbrund gezeigt wurde. Vielleicht ist es ein Pina-Bausch- oder vielmehr Peter-Pabst-Zitat, wenn im letzten Drittel des Abends das keilförmig aufragende Bühnenelement krachend umkippt und zur bespielbaren Schräge wird (Bauschs “Palermo, Palermo” ist im Dezember bei den Berliner Festspielen zu sehen).

Bei aller Kritik jedoch ist das Wiedersehen mit „Körper“ unbedingt zu begrüßen. Allzu selten hat man die Chance, als wichtig erachteten Tanzwerken nach Jahren wieder zu begegnen oder die Entwicklung einer choreografischen Handschrift nachzuvollziehen. Wiederaufgenommen werden demnächst “Allee der Kosmonauten” (1996) und “Sacre” (2014). Und um meine Frage zu beantworten: Zur Berliner Tanzgeschichte gehört das Werk auf jeden Fall, die Schwächen unbenommen – allein schon, weil “Körper” als Schaubühnen-Eröffnungsstück eine klare Aufwertung von Tanz bedeutete und so die gesamte Berliner Szene stärkte.

Weitere Termine:
“Allee der Kosmonauten”: 15.-18. Dezember 2016, Sophiensaele / 28.-31. Januar 2017, Radialsystem V;
“Sacre”, 01.-02. März 2017, Staatsoper im Schiller Theater