Die zwei chilenischen Künstlerinnen Catalina Tello und Lorena Valdenegro zeigten mit „Dunkler Ozean“ und „Agnicion“ am 9. Oktober 2021 im Berliner Kulturzentrum Oyoun einen Doppelabend, der zum Fühlen und Erforschen innerer Räume sowie sphärischer Weiten einlud.
Das Kulturzentrum Oyoun versteht sich als Ort, der genreübergreifend künstlerisch-kulturelle Projekte aus dekolonialer, queerfeministischer und migrantischer Perspektive entwickelt und umsetzt. In der zweiten Etage befindet sich ein Saal mit bestuhlter Tribüne und Bühnenraum. Die leicht erhöhte Bühnenfläche ist jedoch an diesem Abend gar nicht der Hauptschauplatz des künstlerischen Geschehens. Auf der breiten Fläche zwischen Bühne und Zuschauer*innentribüne hängt bereits zu Beginn ein langes dunkelviolettes Tuch von den sichtbaren Stahlträgern der Decke herab und markiert den Raum, den später beide der Performerinnen nutzen werden. Die knapp einstündige Vorstellung reiht zwei Solos unmittelbar aneinander und ich treffe die beiden Künstlerinnen, die auch jeweils ihre eigene Arbeit getanzt haben, danach für ein Gespräch im Café des geräumigen Zentrums an der Hasenheide.
Jenny Mahla: Catalina, dein Stück „Dunkler Ozean“ beginnt mit Textpassagen, die auf Spanisch und Deutsch von den unendlichen Weiten aber auch Rätseln des Universums erzählen, während wir dich zunächst auf der seitlichen Empore stehen sehen. Abwechselnd verharrst du im Dunkeln oder begleitest gestisch und tänzerisch die poetischen, aber teils auch fragmentarischen Ausführungen der Astronomie im hellen Licht eines Scheinwerfers. Es wirkt wie ein innerer Dialog, dem wir beiwohnen. Woher kommen die astronomischen Bezüge und dein Interesse für das Thema?
Catalina Tello: Als Kind hatte ich tatsächlich die Idee, Astronomie zu studieren, denn die Forschung dazu hat mich immer fasziniert und ist in Chile einfach sehr präsent. Wir haben tolle Voraussetzungen zur Himmelsbeobachtung, zum Beispiel in der Atacamawüste. Es stehen viele internationale Sternwarten in Chile. Für mich als professionell ausgebildete Tänzerin ist dieses Forschungsfeld zu einer Inspirationsquelle geworden. Ich denke und fühle zunächst mit meinem eigenen, weltlichen Körper und bewege vor allem diesen, doch es reizt mich auch, Verbindungen und Zusammenhänge im Größeren zu ziehen. Wenn ich an den Begriff „celestial body“ denke beispielsweise. Er kann mit Himmelskörper übersetzt werden doch als Tänzerin bringt er für mich noch viel mehr Assoziationen mit als nur Objekte am Himmel. Ich sehe immer auch einen Bezug zum Körper und dessen Bewegungspotentiale, wenn ich durch die Sphären der Astronomie streife. Auch das Universum ist in Bewegung und bestimmte Eigenschaften oder Aspekte davon auf den menschlichen Körper und seine Bewegungen zu übertragen, finde ich unheimlich spannend.
JM: Du hast bereits in Chile an diesem Thema gearbeitet und mit dem Stück „Universo Umane“ beispielsweise Forschungen zum Dunklen Universum, also Dunkler Materie und Dunkler Energie, auf unser menschliches Sein und unsere Bewegungen bezogen. Wie kam die Verbindung nun zu dem konkreten Phänomen des Schwarzen Loches, welches in „Dunkler Ozean“ eine zentrale Rolle spielt?
CT: In der Astrophysik bezeichnet man Schwarze Löcher oft auch als Singularität und das Konzept soll verdeutlichen, dass es ein Ort ist, an dem die Gravitation so stark ist, dass sich die Raumzeit nicht nur krümmt und verdreht, sondern die Krümmung auch divergiert, also so weit auseinanderstrebt, dass es umgangssprachlich „unendlich“ ist. Dafür gibt es keine wirklichen wissenschaftlichen Erklärungen, es zu beschreiben bringt uns bereits an die Grenzen unserer Sprache und Vorstellungskraft. Aber diese Ideen in körperliche Bewegungsqualitäten zu übersetzen, ist für mich ein weiterer Schritt, mich diesen Phänomenen anzunähern. Krümmung und Verdrehung sind einerseits ganz konkrete Begriffe, die mit dem Körper erforscht werden können. Andererseits finde ich es auch spannend, das Geheimnisvolle und Rätselhafte an Erscheinungen wie Schwarzen Löchern in den Tanz mit einfließen zu lassen und zu beobachten, wie es sich anfühlt, wenn etwas letztlich unerforscht und mysteriös bleibt. Darüber hinaus bringt das Thema eine Tiefe mit sich, die für mich in Verbindung mit dem Tod meines Vaters steht. Er ist vor zwei Jahren gestorben und die Fragen, was wirklich passiert, wenn jemand stirbt und wohin dieser Mensch eigentlich geht, ist für mich ebenfalls relevant geworden. Wenn Sterben bedeutet, diese Realität zu verlassen, dann wäre es so, als würde man in ein Schwarzes Loch fallen und in diesem dunklen Ozean treiben.
JM: Ein Gefühl des Sich-Treiben-Lassens oder vielleicht sogar den Wunsch, der weltlichen Schwerkraft zu entkommen, nehme ich auch in deiner Vertikaltuchakrobatik wahr, die neben den tänzerischen Bewegungssoli deine Arbeit ausmacht. Die langsamen Bewegungen am und mit dem dunkelvioletten Tuch waren von einer sphärischen, elektronischen Musik (Päjaros Kiltros) getragen und akrobatische Elemente wie das Kopfüber-Hängen oder geschickte am Tuch Herunterrutschen, lassen uns teils glauben, dass Schwerelosigkeit auch hier auf der Erde möglich ist. Wie eine entschleunigte Welt voller Fließen und Fallen haben sich deine Bewegungen für mich zu einem Tanz in der Luft zusammengefügt und die vielen Rückbeugen des Oberkörpers im Tuch erinnerten mich an die Herzöffnung, die im Yoga beispielsweise immer wieder Thema ist. Sich dem Universum und dem Publikum in diesem Sinne zu öffnen, war eine meine Lesarten.
CT: Sich zu öffnen und in Verbindung zu gehen ist sicherlich ein Thema für mich. In meiner beruflichen Laufbahn habe ich immer wieder in verschiedenen künstlerischen Formaten gearbeitet; von Performance über physisches Theater bis hin zu zeitgenössischem Tanz. Seit 2013 ist der zeitgenössische Zirkus und vor allem das Vertikaltuch mehr und mehr in meinen Fokus gerückt. „Dunkler Ozean“ ist in diesem Sinne für mich eine Deutschlandpremiere, denn natürlich war es in den letzten zwei Jahren, in denen ich nun in Berlin bin, nicht leicht, künstlerische Projekte mit dem Publikum zu teilen. Daher freue ich mich besonders, nun live performative Einblicke in meine Forschung über Tanz und Astronomie geben zu können.
„Agnicion“, Lorena Valdnegro ©Diego Àlvarez
Jenny Mahla: Lorena, du bist ebenfalls ursprünglich aus Chile und hast 2016 das AQUItheater Berlin mitgegründet. Als szenisches Forschungslabor stellt ihr den Körper als Hauptwerkzeug des Erzählens in den Mittelpunkt und arbeitet an der Schnittstelle von zeitgenössischem Tanz und physischem Theater. Ausgehend von den eigenen Biografien sind Themen wie Migration, Feminismus, Identität und Geschlechterrollen immer wieder Aspekte eures künstlerischen Schaffens und ihr bietet darüber hinaus Kurse und Aktivitäten für alle Altersklassen an. Du bist aber auch als Kuratorin am Oyoun aktiv und hast Catalina eingeladen, diesen Abend mit dir zu gestalten.
Lorena Valdenegro: Ja, genau. Es ist in diesem Kontext unser erster gemeinsamer Abend, aber wir haben auch bereits in anderen Projekten zusammengearbeitet. Im Stück „MARTA“, welches Anfang September ebenfalls im Oyoun zu sehen war und welches das Thema der Gewalt gegen Frauen auf die Bühne gebracht hat, habe ich Regie geführt und Catalina hat die Arbeit mit dem fünfköpfigen Ensemble als Assistentin unterstützt. Die Verbindung von Tanz und Schauspiel ist für mich eigentlich von Anfang an relevant gewesen. Nach meinem Schauspielstudium in Santiago de Chile mit dem Schwerpunkt Tanz und Akrobatik war für mich klar, dass ich weiter im Tanz aktiv sein möchte und so habe ich meine Pläne, Theaterpädagogik in Deutschland zu studieren, dahingehend geändert, dass ich 2015 zunächst nochmal einen Intensivkurs zur Berufsausbildung für zeitgenössischen Bühnentanz absolviert habe. Dann hat mir wiederrum ein bisschen das Schauspielen gefehlt und so würde ich meine Arbeit heute immer als Mischung aus Tanz und Theater beschreiben.
JM: Dein Stück „Agnicion“ arbeitet ebenfalls mit Text und assoziativen Gedanken, die jeweils in Spanisch und Deutsch zu hören sind. Mal sind die Passagen live von dir gesprochen, mal eingespielt, wodurch deine Stimme, mit der du selbst in Dialog trittst, den Raum füllt, während du weiße Papierkegel oder auch zwei großformatige Origami-Pinguine im Schattenspiel arrangierst. Im Ankündigungstext fragst du: „Was lernen wir von der Liebe und was müssen wir verlernen?“
LV: Tatsächlich wollte ich ein Stück über Liebe machen. Über die romantische Liebe durchaus, aber nicht im klassischen Sinne einer Zweierpartnerschaft. Das Motiv des Pinguins kam dabei einerseits mit dem regionalen Bezug aus meiner Heimat Chile, wo es viele Pinguine gibt. Andererseits fand ich es faszinierend, dass die Tiere offenbar lebenslang monogam leben, sich aber nur einmal im Jahr sehen. Sie haben ein Ritual, bei dem sie singen, um sich wiederzufinden und der männliche Pinguin bringt dem Weibchen dann einen Stein. Ich fand es spannend, mich performativ damit auseinanderzusetzen, um unser Verständnis von Liebe zu befragen. Vielleicht sind die Textpassagen wie ein Reinhören in das Herz oder den Kopf. Zentral ist für mich dabei immer die Frage, mit wem ich eigentlich rede. Denn Liebe hat so viele verschiedene Formen und egal, ob es Freund*innen, ein*e Beziehungspartner*in ist oder ein Vogel, mit dem ich spreche, es geht für mich um ein gegenseitiges Erkennen und die Möglichkeit, gehen zu können. Wegzugehen und zu lieben.