„Humans“, Yaron Lifschitz & Circa Contemporary Circus Ensemble ©Pedro Greig

Übermenschliche Humans

Als eine Art Company in Residenz ist die australische Truppe Circa Contemporary Circus für vier Monate am Chamäleon Theater in Berlin-Mitte zu Gast. Das Stück „Humans“ von Yaron Lifschitz, mit dem Ensemble kreiert, seit Anfang September und noch bis zum 30. Oktober 2021 zu sehen, bildet den eindrucksvollen Auftakt zu einem vielseitigen Repertoire des zeitgenössischen Zirkus.

Es ist ein erstaunlicher Abend – einerseits, weil der holzvertäfelte Saal, in dem die schick gekleideten, an kleinen Tischen gruppierten Gäste Getränke und Snacks serviert bekommen, eine mir bisher eher unvertraute Atmosphäre für Bühnenkunst erzeugt. Andererseits bringt das, was da auf der erhöhten Bühne passiert, uns Zuschauende immer wieder zum Staunen.

Der effektvolle Einstieg des sprunggewaltigen Solos von Daniel O´Brien ist voller Sprungrollen und Saltos. Er lässt uns gleich zu Beginn aufhorchen, auf welchem Niveau die nächsten siebzig Minuten artistischer Unterhaltung stattfinden werden. Kraft trifft auf Körperbeherrschung und Timing – diese Kunst kommt ohne Frage von akrobatischem Können. Auf der Bühne des Chamäleon Theaters in den Hackeschen Höfen stehen an diesem Abend außerdem Fran Alvarez Jara, Marty Evans, Sam Letch, Hamish McCourty, Kimberley O´Brien, Jarrod Tackle, Luke Thomas, Georgia Webb und Christina Zauner. Rückblickend wirkt die Bühne eigentlich zu klein für das, was alles Großartiges auf ihr veranstaltet wurde. Gut platzierte Tricks, wie das Landen knapp neben dem Kopf oder Körper anderer Artisten nach einer eindrucksvollen Folge aus Überschlägen beispielsweise, lassen das Publikum immer wieder nach dem ersten Schreck vor Erleichterung hörbar Aufatmen. Risiken einzugehen und absolutes Vertrauen untereinander zu haben, sind für die insgesamt zehn Performer*innen der preisgekrönten Company aus Brisbane zentral.

Die Show „Humans“, welche die Grenzen des physisch Möglichen auszuloten versucht, besteht in der für dieses Genre typischen Weise aus vielen einzelnen Szenen, die sich aneinanderreihen und jeweils unterschiedliche akrobatische Aspekte in den Fokus stellen. Narrative Elemente gibt es nur punktuell und sind im größeren Kontext auch nicht gewollt, wie wir in der Ansprache der Intendantin Anke Politz zu Beginn bereits erfahren. Im zeitgenössischen Zirkus findet sich die Struktur eines Stückes wohl meist gemäß der Schwerpunkte und Möglichkeiten der Akrobat*innen sowie des Aufführungsorts. Nach einem rasanten Auftakt mit hohen Sprüngen und Würfen, kommt als erstes Element das Vertikaltuch zum Einsatz. Der Luftakrobat Luke Thomas zeigt virtuos und von der Schnelligkeit der Musik angeheizt, einen imposanten Aerial Dance.

Dass die Performer*innen neben Muskelkraft und Flexibilität alle über eine unfassbare Körperkontrolle verfügen, zeigt sich beispielsweise in der Partner- und Gruppenakrobatik, wenn die bewusst platzierten und ruhigen Bewegungen der Auf- und Abgänge auch noch musikalisch perfekt getimt sind. Klassische Duett-Figuren wie der sichere Handstand einer Fliegerin auf den Händen der Base, also einer anderen, tragenden Person, sind genauso Teil des Repertoires wie ein menschlicher Turm aus drei Akrobat*innen. Mehr Menschen, die aufrecht auf den Schultern aufeinander stehen, hätte die Deckenhöhe auch nicht hergegeben. Als weiteres Element bringt die sogenannte Handstandstütze, eine Konstruktion mit zwei senkrecht montierten Stangen, Jarrod Takle später kopfüber in die Vertikale und seine Balance- und Kraftkunststücke reihen sich nahtlos in das erstklassige Niveau dieser extremen körperlichen Leistungen ein.

Humoristisch gebrochen wird dieses Spektakel von kleinen Zwischenszenen, wie dem Versuch der Performer*innen, mit der Zunge den eigenen Ellenbogen zu erreichen. Wenn es jemand auf dieser Welt schaffen würde, dann sicher diese Akrobat*innen, denken sich wohl die meisten der amüsierten Zuschauenden. Doch selbst sie können es nicht. Und dieses menschliche Scheitern, trotz anderer unfassbarer Fähigkeiten, ist es, welches uns als Menschen verbindet. In der Arbeit „Humans“ geht es für Yaron Lifschitz, dem künstlerischen Leiter der Circa Company, genau so sehr um das Streben nach Erfolg wie um das Akzeptieren von Niederlagen. Doch nicht nur erfolgreich, sondern teils übermenschlich wirkt die Truppe, wenn beispielsweise Christina Zauner auf den Köpfen ihrer männlichen Kollegen entlangschreitet. Oder als hätte sie tatsächlich die Schwerkraft außer Kraft gesetzt, wenn sie später als Luftakrobatin scheinbar mühelos an den Schlaufen der sogenannten Strapaten-Bänder durch die Luft wirbelt. Dass später mit Sam Letch, einer der physisch Größten des Ensembles auf ihren verhältnismäßig kleinen Schultern steht, gibt den klassischen Rollenverteilungen der Partnerakrobatik ganz nebenbei einen angenehmen Twist.


„Humans“ der Circa Contemporary Circus ist bis zum 30. Oktober 2021 im Chamäleon Theater zu sehen.