„Landscape of Comfort“, Rachel Monosov ©XO Curatorial Projects/Foto: Juan Saez

Parade parallel

In Rachel Monosovs Tanzperformance „Landscape of Comfort“ inszenieren Tamar Grosz, Camilla Brogaard und Julia Shelkovskaia mit Tretrollern eine festliche Parade. Die Veranstaltung fand am 11. Juni 2022 im Rahmen des Festivals Movement Research ACROSS vor der Galerie Wedding statt.

Auf dem Rathausvorplatz an der Müllerstraße tummeln sich Menschen. Mittendrin sticht ein kreisrunder Pavillon hervor, bestehend aus offenen, regenbogenfarbenen Elementen, auf denen Personen sitzen und liegen. Oberhalb wird die Konstruktion durch schmale Balken zusammengehalten. Es handelt sich dabei um die bewohnbare Bühnenskulptur „Flexible Colour Circle“ von Viron Erol Vert. Weitere Menschen sitzen auf den Stufen zum Jobcenter und auf den umliegenden Bänken oder stehen vor dem Musikpult vor der Galerie Wedding. Ich lasse mich treiben und auf einer pinken Bank im Pavillon nieder. Es ist kurz vor 19 Uhr und noch immer warm, doch ein starker Wind weht um meine Ohren.

Zwei Tänzerinnen, Tamar Grosz und Camilla Brogaard, nähern sich dem Bühnenpavillon mit Tretrollern. Sie tragen türkise Hosen aus Kunstleder und hellbeige Rollkragenshirts. An ihren Zöpfen ist ein langes Haarteil befestigt. Eine weitere Performerin, Julia Shelkovskaia, betritt in weißer Jeans und weißem T-Shirt die Mitte des regenbogenfarbenen Kreises und spricht uns Zuschauer*innen mit elektronisch gepitchter Stimme durch ein Mikrofon an. Sie bittet uns, unsere rechte Hand auf die linke Brust zu legen. Aus den Lautsprechern folgt ein Klopfen. Die Boxen sind außerhalb des Pavillons angebracht, sodass sowohl Shelkovskaias Stimme als auch das Pochen als Herzschlag wie aus dem Off zu kommen scheinen, die Geräusche wirken losgelöst von den Körpern und dringen dennoch mit tiefem Bass in uns ein. Die offene Struktur des Pavillons unterstreicht dieses liminale Losgelöst- und zugleich Mittendrin-sein abermals.

Tamar Grosz und Camilla Brogaard legen die Tretroller wie architektonische Störelemente auf den Boden und marschieren mit jeweils einem Arm auf der eigenen Schulter mit akzentuierten Schritten auf die Jobcenter-Treppe, sie bahnen sich ihren Weg zwischen den Sitzenden hindurch. Wieder auf dem Platz, üben sie sich in Stechschritten, wie sie aus Militärparaden bekannt sind, hüpfen im Takt und drehen sich um ihre Achsen. Ihre gymnastischen Bewegungen erinnern an olympische und kommunistische Sportparaden. Der pochende Bass gibt den Rhythmus vor. Nur kurz sind die zwei Tänzerinnen in der Mitte des Pavillons, ehe Julia Shelkovskaia ihnen und uns befiehlt, stehen zu bleiben. Dann setzt sie an zu einer Hymne. Ihre Opernstimme scheint wieder losgelöst von ihrem Mund und Körper, sie kommt von hinter ihr aus den entfernten Lautsprechern, ist aber so laut und hoch, dass sie meinen Körper durchfährt und mir eine Gänsehaut beschert. Nur wenige Worte kann ich verstehen, es geht um „humanity“, es scheint ein Lobgesang für die Menschheit zu sein.

Julia Shelkovskaia bittet uns auf Deutsch, wieder Platz zu nehmen: „Heute schreiben wir Geschichte.“ Aus den Lautsprechern werden ihre Aussagen von einer männlichen Rednerstimme ins Englische übersetzt. Tamar Grosz und Camilla Brogaard halten die sperrigen Roller mit ausgestreckten Armen hoch in die Luft, dann sollen sie wieder ihre Ausgangspositionen einnehmen und es folgt die Würdigung, eine Verleihung an „wen auch immer“. Eine der Tänzerinnen entfernt das Haarteil von ihrem Zopf und klemmt es an die Schulter. Sie fahren eine Ehrenrunde um den Pavillon, dabei schiebt Brogaard Grosz auf dem Roller an. Dann liegt Grosz am Boden und Brogaard schaukelt sie mithilfe des Rollers. Der Moment der Rast wirkt wie ein kurzer Widerstand gegen die Vorgaben und Befehle Shelkovskaias und zugleich ist es eine fast brutale Geste mit dem metallenen Roller, die eher Unbehagen als „comfort“ auslöst. Eine Tänzerin klemmt das Haarteil an die Schulter eines nebenstehenden Zuschauers, das Publikum reicht es der Reihe nach weiter, bis keine Person mehr in Reichweite steht. Währenddessen geht das Spektakel weiter, ist schwer zu überblicken, passiert mit den drei Performerinnen an drei Orten zugleich, parallel, und überall stehen Menschen, der Wind weht die Taschen und Zettel von der Bank. Aus den Lautsprechern ertönt mittlerweile laute House-Musik, wie zum Aufheizen der Stimmung in Sportstadien. 


Fotos: „Landscape of Comfort“ von Rachel Monosov © XO Curatorial Projects / Juan Saez


In der Mitte des Pavillons hält Julia Shelkovskaia zunächst eine Rede – hinter ihr läuft ein Junge durch das Bild –, dann stellt sie sich auf das Podest und mimt das Schwenken einer Fahne nach. Kurz danach liegt sie in der Mitte des Pavillons mit ihrem Rücken auf den Boden, die beiden Tänzerinnen sitzen gerade auf der Bank, wie dressiert, ihre Hände zwischen die Oberschenkel geklemmt. Shelkovskaia beginnt zu singen, laut und schrill durch elektronische Verzerrung, ich kann kaum etwas verstehen und nehme nur „who can be proud of …“ wahr. Dann befiehlt sie ihren Tänzerinnen: „Face audience“, woraufhin diese erneut im Paradeschritt um den Pavillon marschieren. Dabei blicken sie uns, den Zuschauer*innen, in die Augen. Derweil tanzt die Shelkovskaia zur Musik und erklärt die heutige Zeremonie für beendet. Im Anschluss versuchen die drei Performerinnen, die Zuschauer*innen zum Tanzen zu motivieren. Ein paar folgen der Aufforderung. Viele versuchen jedoch, ihrer Partizipation durch Blickvermeidung zu entgehen. In dem Gewirr verschwinden die Performerinnen und bleiben bei dem Mischpult vor der Galerie Wedding stehen. Die Roller bleiben auf dem Boden zurück und werden zugleich von einem Jungen gekidnappt. Eine Mitarbeiterin des Festivals läuft ihm hinterher, bis dieser ihn wieder zurückgibt. 

Das Festival Movement Research ACROSS, kuratiert von Nitsan Margaliot, Solvej Helweg Ovesen und Kathrin Pohlmann, untersucht vom 2. Juni bis zum 30. Juli 2022 mit mehr als 16 Performances die intersektionalen Möglichkeiten von künstlerischen Interventionen im urbanen Raum in Berlin-Wedding – nach zwei Jahren pandemiebedingter Kontaktbeschränkungen. Dabei dient neben den Galerieräumen auch der Rathausvorplatz als Spielfeld, in welchem sich Menschen mit unterschiedlichen Biografien und Körpern bewegen und spontan begegnen können. Der zentrale Austragungsort der Festivalperformances mit der Bühnenskulptur von Viron Erol Vert ist ohne Eintritt zugänglich. In dieses Programm reiht sich auch Rachel Monosovs Tanzperformance „Landscape of Comfort“ ein. Mittendrin und dennoch losgelöst von der Menschenmenge inszenieren Tamar Grosz, Camilla Brogaard und Julia Shelkovskaia mit Tretrollern, deren elektronisch betriebene Pendants seit ein paar Jahren das Stadtbild prägen, diese festliche Parade, spielen dabei mit militärischen Anekdoten und Machthierarchien zwischen Ansagenden und Ausführenden – die Skripts von Shelkovskaias Beiträgen stammen von tatsächlichen Militärreden, wie Rachel Monosov in einem Interview mit Cashmere Radio verriet. Vieles läuft parallel ab, manchmal ist die Szenerie schwer zu durchschauen, und manchmal sogar verwirrend, doch insgesamt schaffen sie es, das Publikum mit einzubeziehen, sei es nur mit der Hand auf der Brust oder aber mit Bassmusik und wellenden Stimmklängen, die es durchdringen und in Unruhe versetzen.


„Landscape of Comfort“ – Choreografie/Konzept: Rachel Monosov; Performer*innen: Tamar Grosz, Camilla Brogaard, Julia Shelkovskaia; Musik: Pablo Ritter.


Das Festival Movement Research ACROSS (02.06. bis 30.07.2022, Rathausvorplatz Wedding & Galerie Wedding) wurde kuratiert von Nitsan Margaliot, Solvej Helweg Ovesen und Kathrin Pohlmann im Rahmen des Ausstellungsprogramms „Existing Otherwise | Anders Existieren 2021–22“.