„A Millimeter in Light Years“, Laura Heinecke © Bernd Gurlt

Köpfe in den Wolken

Das neue Werk der Potsdamerin Laura Heinecke „A Millimeter in Light Years“ vereinigt große Fragen, Nebelmaschinen und Ensemble-Arbeit in der fabrik Potsdam.

Potsdams Entfernung von Berlin ist seltsam. Einerseits ist die Stadt ganz nah, nur eine 38-minütige S-Bahn-Fahrt von Berlin Mitte entfernt, andererseits hat sie eine vollkommen andere Kultur, andere Bewohner*innen, andere Bebauung und Atmosphäre. Nach Potsdam zu fahren ist wie eine Reise. Und nach Potsdam zu fahren, um dort eine Tanzaufführung zu sehen, fühlt sich auch immer ganz besonders an. Berlin ist groß genug, um seine eigene Blase zu bilden – und diverse starke Tanz-Mikro-Blasen zu beherbergen. Potsdam, mit seinen gerade einmal 170.000 Einwohnern, ist dagegen sehr gemütlich und richtet dennoch, vielleicht gerade wegen seiner überschaubaren Größe, den Blick gerne nach außerhalb. Die künstlerische Leitung der fabrik Potsdam bemüht sich immer darum, sowohl lokale als auch internationale Arbeiten zu unterstützen, in den jährlichen Festivals werden Künstler*innen aus Frankreich, Korea und Kanada ebenso präsentiert wie solche aus Potsdam und Berlin.

Es ist in diesem Sinne also durchaus folgerichtig, dass eine in Potsdam aufgewachsene Choreographin erst einmal außerhalb der Region künstlerische Erfahrungen sammelt, bevor sie nach Hause zurückkehrt. Laura Heinecke hat in Freiburg studiert und ist dann nach Brüssel gezogen, um dort in der lebendigen internationalen Szene zu lernen und kreativ zu arbeiten. 2012 kam sie in ihre Heimatstadt zurück, gründete ihr eigenes Ensemble, trat dem Organisations-Team der Potsdamer Tanztage bei und arbeitet dabei weiterhin mit internationalen Künstler*innen zusammen.

Heineckes neue Arbeit „A Millimeter in Light Years“ entspringt der Beschäftigung mit dem Verhältnis von Distanz und persönlicher Freiheit auf der einen Seite und Empathie auf der anderen. Heineckes besonderes Interesse gilt dabei der Frage, was Distanz im persönlichen, kulturellen und räumlichen Sinne bedeutet. Das Stück beginnt mit dem Auftreten einer einzelnen Figur in glänzender weißer Bluse und grüner Hose, die ihre Glieder herumschlenzt, umherwirbelt und dann langsam präzise wieder entfaltet, bis schließlich das Ensemble in wechselnder Besetzung dazu kommt. Es ist aufregend, sechs Tänzer*innen in einem neuen Werk gemeinsam auf der Bühne zu sehen, wo man doch sonst oft höchstens drei sieht – und besonders aufregend, sie wirklich in Bewegung zu sehen. Die Gruppe bewegt sich meist unisono, um sich gelegentlich in Variationen aufzulösen. Manche der Gruppenbewegungen haben große Kraft (weit ausgreifende Gesten und Drehungen auf den Knien des ganzen Ensembles), aber die meiste Zeit sind die Bewegungen nicht ganz im Einklang, was den Effekt doch beträchtlich stört. Ein dynamischer Schwerpunkt fehlt ebenfalls und so wird es größtenteils der Musik überlassen, eine dramatische Struktur zu schaffen.

Stärkere Momente hat das Stück in Duetten und gut vorgetragenen Solos. In einer besonders interessanten Szene tanzen zwei Duos gleichzeitig auf unterschiedliche Weise. So deutlich wie sonst an keiner Stelle wird hier das Thema der persönlichen und kulturellen Distanz und Differenz beleuchtet. Auch die einsame Figur, auf die sich unsere Blicke während der Solos richten, lässt uns die Schnittstellen von Körper in Bewegung, Klang und Licht erkennen.

Und tatsächlich weist Heinecke in ihrem Programmtext auf die integrative Kraft von Klang und Licht hin, ersterer kreiert von Nicholas Schulze, letzteres von Ralf Grueneberg. Während der ersten Hälfte ist die Bühne hell erleuchtet, die Böden weiß, die Wände dunkel und an der Decke flackern fünf flache eckige Strahler. Im Gegensatz dazu ist der Raum in der zweiten Hälfte abgedunkelt und ruhig. Noch bevor sich die Augen vollständig an das Dämmerlicht gewöhnt haben, quillt Rauch aus den hinteren Ecken der Bühne. Unter dichten Schwaden machen wir drei Figuren aus, die sanfte, kaum wahrnehmbare Bewegungen ausführen. Vorsichtig tauchen Köpfe und Hände durch die Wolken, was aussieht wie Tai Chi im Nebel. Heinecke beharrt auf diesem Bild und nach und nach entwickelt sich eine Atmosphäre der Ruhe, der Verzauberung und der Geduld, der Eindruck von etwas Althergebrachtem. Es ist unglaublich schön.

Aus diesem neuen Blickwinkel entfaltet sich die zweite Hälfte. Das Ensemble verschmilzt und trennt sich wieder unter einer taumelnden stürmischen Rauchwolke, es löst sich in Fragmente auf, als das Licht den Raum in Scheiben schneidet. Hier zeigt sich Gruenebergs Kreativität im Umgang mit Licht. Aus dem Nebel meißelt er beeindruckende Architektur, die die Tänzer*innen füllen, hinter der sie zurückbleiben, durch die sie sich bewegen, mit der sie spielen.

Die Themen Distanz, persönliche Freiheit und Empathie sind nicht immer deutlich. Es ist interessant, über die Facetten von persönlicher, kultureller und räumlicher Distanz nachzudenken, dargestellt von den Figuren, denen ich dabei zusehe, wie sie sich auf der Bühne  annähern und wieder von einander entfernen. Aber mir scheint, ich könnte angesichts dieses Werkes auch genauso gut über andere philosophische Themen (zum Beispiel über Schwerkraft, Weisheit, Partnerschaft, Vergänglichkeit) nachdenken, die hiermit gar nichts zu tun haben. „A Millimeter in Light Years“ ist ein Stück, in dem es in erster Linie um Bewegung geht, seine Ausdruckskraft ist auffallend anti-didaktisch und flüchtig. Dies soll jedoch keine Kritik an der Produktion der Company sein, schließlich sind Tanzstücke keine Abhandlungen. Immerhin vermittelt uns Heineckes wilde Mischung aus Licht, Sprüngen, Ensemble-Arbeit, Momenten des Gehens, aus Gesten und Stille einen Einblick darein wie es aussehen kann, wenn zwei verschiedene Tanzwelten zusammen kommen. Zum Leben erweckt von Tänzer*innen aus Potsdam, Brüssel, Tel Aviv und anderswo, regt uns das Stück zum Nachdenken an – über alle Arten von Distanz und das Gute, das diese mit sich bringen.

Deutsche Übersetzung von Bettina Homann