PASTPARTUM, Sonya Levin ©Oliver Möst

Ein matrixiales Kontinuum

Sonya Levins PASTPARTUM, präsentiert am 7. September in der Kleinen Orangerie, erkundet den Zyklus der menschlichen Selbstschaffung durch die Schwangerschaft im Kontext von permanenter Selbstverzehrung und Selbstaufgabe. 

Ein Körper liegt flach auf dem braunen Steinboden: die Beine nackt, Haare umwehen einen gesichtslosen Kopf, ein hochschwangerer Leib und Brüste ragen auf und dehnen den Stoff eines schwarzen Trikots. Ich sehe sie auf dem Bauch liegen, die Fußsohlen nach oben gekehrt. Ich schaue genauer hin und sehe sie auf dem Rücken liegend. Ihr Bauch hebt und senkt sich im Rhythmus des Atems: Leben.

Eine körperlose Hand ertastet diese Landschaft. Ich denke an das ‚Ding‘ aus The Addams Family. Sie streicht das Bein hoch, umfasst den gigantischen Bauch und die riesigen Brüste, streicht weiter über das Becken, streichelt entweder Genitalien oder den Po, je nachdem, was ich sehe. 

Die Performance findet am Tag nach dem Tod von Rebecca Horn statt, die mit ihren Body-Transformationen durch gefütterte Extensionen und prothetischen Bandagen berühmt wurde. Levin schreibt Horns künstlerische Erkundung des menschlichen Körpers fort, die das Erleben von Lebenszeit in der Wahrnehmung der Form durch die Betrachtenden hinterfragt und sich selbst im Spiel mit dem Abstrakten zeichnet. Sie treibt dieses visuelle Studium rigoros vorwärts, wenn ihr Körper ‚mit Blick auf‘ die hintere Wand die Prothese auf ihrem Rücken als ihre ‚Vorderseite‘ präsentiert. Subtil verkehrt sie, was vorn und hinten ist, indem sie die im Gebären vorwärts gerichtete Bewegung der weiblichen Figur auf die hintere Seite des Körpers kehrt. Eine Frauenstimme zitiert Worte und Sätze – ein Memoir –, und ich frage mich, ob die mit Unterbrechungen erklingende Wiedergabe live eingesprochen oder eine Aufnahme ist. Irgendwann dreht sich der Körper und offenbart die zweite ‚Vorderseite‘ der sich wandelnden Figur. Wir hören Levin im Dialog mit ihrer Stimme vom Band. Im Selbstgespräch reflektiert und spekuliert sie mit dem in den Saal tönenden Ich über Identität, DNA, eigene und politische Geschichte, Sehnsucht und Revolution. Die physischen Auskragungen auf ihrem Rücken trägt sie wie einen Rucksack. Skulpturenartig bildet sie neue Formen, hin und wieder stellt sie sich seitlich auf ein Bein und wendet uns ihr Gesicht zu. Dabei hält eine Hand ihr Haar über dem Kopf zusammen – ein Selbstportrait in Referenz an die abstrakt-expressionistischen Gestalten in Egon Schieles Bildern.

Levins minimalistisches, persönliches Solo steht im kultivierten Austausch mit Kunstschaffenden, die in ihren Arbeiten Sein und Mutterschaft konkret körperlich thematisieren. Ich denke hier an  Xavier Le Roys sich permanent wandelndes Self-Unfinished, Mette Ingvartens Manual Focus (‚Gesichter‘ und ‚Rücken‘ vertauscht) oder Paula Modersohn-Beckers Selbstbildnis am sechsten Hochzeitstag, auf dem sie sich schwanger malte, bevor sie schwanger war. Ich erinnere die farbenfrohen, verschwommenen Gemälde von Camille Henrot und Bracha Ettinger, die die ‚matrixiale‘ Sphäre als teilbare, psychische Dimension der Emergenz jenseits der Schwelle von Identität und Erinnerung theoretisch erfassen. Sie stellen den visuellen Kontrast zu den schwarz-weiß dargestellten physischen Abstraktionen der Levinschen Form dar, die jedoch wie diese Fantasien im transformativen Prozess des Geburtserlebnisses wecken und auf die Kontinuität des Individuums im Wandel der zahlreichen Lebens-Ichs verweisen. 

Die Beziehung zwischen der Darstellung des verdrehten Körpers bei Levin und ihrer reflektierenden Konversation lässt uns fragen, was sich physisch vermittelt: Tanzgeschichte, Generationenerfahrung, Kultur, der unaufhaltsame Fluss der Zeit, unvermeidliche Veränderung, Vergangenheitsverlust. Nostalgie sei „Widerstand gegen das Vergessen“, heißt es. Ich denke an die zyklische Temporalität von Geburt, Sterben, Erinnerung, Schmerz und die affirmative Ethik der Philosophin Rosi Braidotti, die nicht von Nostalgie und Revolution, sondern von zusammenhängender ‚Intraaktion‘ schrieb. Wir entstehen gemeinsam durch unsere Körper. Unser Leib ist eine Matrix der Relationalität

Übersetzung aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese


PASTPARTUM von Sonya Levin wurde am 7. September 2024 in der Kleinen Orangerie gezeigt.