Wolf, eine Produktion des Circa Contemporary Circus unter der Regie von Yaron Lifschitz, kombiniert temporeiche Akrobatik mit der flüchtigen Anmutung von Verletzlichkeit. Chamäleon Berlin zeigt die Peformance in einer Welturaufführung vom 20. August 2024 bis 5. Januar 2025.
Sie fliegen. Sie lächeln. Ihre Zehen bewegen sich wie Finger, ergreifen ein Seil oder ein Stück herabhängenden Stoff, während ihre Körper sich nahtlos in der Luft verwandeln. Tatsächlich sind ihre Glieder geschickte, sehende Hände. Körper dehnen sich und ziehen sich zusammen, als seien sie Knetmasse. Nach jeder der beeindruckenden Szenen jubelt und applaudiert das Publikum.
Wolf entwickelt sich, und in jedem Moment erlebe ich Präzision und Stärke. Die Artist:innen verstehen meisterhaft, mit ihrem Gewicht Momentum zu schaffen und bieten übermenschliche Perspektiven im Gegengleichgewicht. Die Virtuosität ihrer technischen Fähigkeiten lässt das extrem Schwere ebenso perfekt wie leicht aussehen. Gleichwohl spricht sie mich nicht an. Die Bemühungen der Performenden, Theatralik durch Mimik zu erzeugen, überzeugen mich nicht. Mehr noch: Hier und da sind sie mir geradezu peinlich. Sie lächeln, doch ich frage mich, ob sie wirklich glücklich sind, oder ob sie nur – wie im klassischen Tanz oder Jazz – gelernt haben, glücklich auszusehen.
Dagegen berühren mich die Augenblicke, in denen die Körper der Performenden menschlich wirken, die Momente, in denen ihre Menschlichkeit die Fassade des Übermenschlichen durchdringt. In den besonders schwierigen Akrobatikakten spüre ich in ihrer Körpersprache auch eine Unsicherheit, eine Spannung, die das gesamte Ensemble erfasst. Sichtbar zitternde Muskeln. Die erahnte Möglichkeit des letztlichen Scheiterns erweist sich als ebenso aufregend, wie das Erhaschen eines ganz privaten Blickwechsels zwischen zwei Performenden in einer wirbligen Choreografie. In den atemlosen Bewegungswellen, die vom gnadenlosen Tempo der Musik unaufhaltsam vorwärts gepeitscht werden, verlangsamt sich die Zeit nur in den Szenen, in denen ich die Verletzlichkeit der Performenden wahrnehme.
©Andy Phillipson
Im Programmheft heißt es, Wolf kombiniere „intensive Choreografien aus Akrobatik und Tanz, voll mitreißender Energie und Körperlichkeit.“ Als Zuschauer*in, die sich vor allem mit experimentellem Tanz und multidisziplinärer Performance befasst, frage ich mich, wie das Ensemble Circa, eine moderne Zirkuskompagnie aus Australien, die sich – so die Selbstbeschreibung – insbesondere für das „Potenzial des Zirkus“ interessiert, in dieser Performance ‚Tanz‘ definiert. Geht es darum, den eigenen Körper zu beherrschen? Geht es um Körperkontrolle? Wäre das die ‚Freiheit‘, die ‚Tanz‘ anstrebt? Wenngleich das spektakuläre Überschreiten der Grenzen des eigenen Körpers in mir ein Gefühl von Respekt und Ehrfurcht weckt, sehne ich mich nach den Momenten, die emotionale Reaktion sichtbar machen.
Eine Szene empfinde ich als besonders zärtlich: ein kurzes Duett in einer hinteren Bühnenecke, während sich ein anderes Paar dynamisch im Scheinwerferlicht dreht. Die beiden Performenden in der Nische halten einander fest. Sie schwingen hin und her, als würden sie langsam tanzen. Ohne jegliche Theatralik offenbaren ihre Körper Zuneigung und gegenseitige Bestätigung. Mir kommt ein anderes körperliches Erlebnis in den Sinn, bei dem ebenfalls die Zeit in der körperlichen Nähe einer anderen Person stoppt und der Wunsch aufkommt, dies alles aufzunehmen und im hektischen Ambiente einen Ruhepol zu schaffen. Mein Herz schmilzt in vager Sehnsucht. Der Zauberbann bricht, als das Duett zu akrobatischer Choreografie zurückkehrt.
Beim Schlussapplaus schwindet die Intensität aus den Körpern der Performenden. Sie lächeln strahlend, und ich suche in ihren Gesichtern nach dem menschlichen Element, etwas, an das ich unterhalb des Glanzlacks ihrer Perfektion andocken kann.
Übersetzung aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese
Wolf (Performance: Circa Contemporary Circus, Regie: Yaron Lifschitz) wird vom 20. August 2024 bis 5. Januar 2025 im Chamäleon Berlin gezeigt.