“Foreland – Bach und Britten”, Nitsan Margaliot/Isaac Lottmann ©Giacomo Corvaia

Dialoge sichtbarer Frequenzen

In “Foreland – Bach und Britten”, einem Zusatzprogramm des soundance festival berlin, verkörpern der Choreograf und Tänzer Nitsan Margaliot und der Cellist Isaac Lottman zwei Suiten der Komponisten Johann Sebastian Bach und Benjamin Britten. Die Deutschlandpremiere fand am 12. Mai 2023 in der St. Matthäus-Kirche statt. 

“Man sieht, wie sich die Frequenzen direkt vor einem bewegen.”
Isaac Lottman

Der Choreograf und Tänzer Nitsan Margaliot beschäftigt sich in einem Großteil seiner Arbeiten mit alternativen Archiven, unter anderem aus persönlichen Familiengeschichten oder als Hommage an israelische Künstler*innen, die während der HIV/AIDS-Pandemie verstorben sind. Mit “Foreland – Bach und Britten” zeigt er eine überarbeitete Version zweier Soli, die vor sieben Jahren zur Premiere kamen. Mit diesem Symbol aus der Vergangenheit erforscht er das eigene choreografische Archiv aus einer neuen Perspektive.

Der Cellist Isaac Lottman spielt Johann Sebastian Bachs Suite Nr. 5 in c-Moll (1717-1723). Er hat eine besondere Art zu musizieren. Ich höre seinen Atem, den er durch gespitzte Lippen einzieht und auspresst. Seine Fußsohlen schleifen ab und zu zügig über den Boden. Es ist ein ganzkörperliches, tänzerisches Musizieren, mit dem er für einige Minuten alleine den modernen Innenraum der St. Matthäus-Kirche ausfüllt. Nitsan Margaliot, der sich im zweiten Satz neben den Cellisten stellt, scheint für mehrere Momente der Musik nur zuzuhören, sie zu erspüren, bevor er mit Beginn des dritten Satzes in Bewegung kommt. Seine Hände führen ihn wellenförmig durch den Raum, als würde er Wasser tragen, aufheben, einstecken und ablegen. Immer wieder gibt es Momente, in denen er innehält, um die Musik zu beobachten. Der Tanz ist nicht illustrierend. Selten deckt sich die Wiederholung einer Tonfolge mit der Wiederholung einer Bewegung. Wenn sich die Rhythmen von Musik und Tanz dann angleichen, wirkt es spontan wie eine spielerische Unterhaltung zwischen den beiden Künstlern. 

Im zweiten Teil, zu Benjamin Brittens Suite Nr. 1 für Violoncello (1962) treten Musiker und Tänzer gleichzeitig auf. Margaliot sitzt auf seiner linken Ferse, das rechte Bein ist angewinkelt. Im Verlauf der ersten Sätze sinkt er langsam in sich zusammen. Seine Handrücken liegen auf dem Boden und der gesamte Körper steht unter in sich gekrümmter Spannung. Selbst als er ins Stehen kommt, wirkt sein Körper schwermütig, als wäre die Schwerkraft für ihn zehnmal stärker. Sein Kopf fällt im Rhythmus der gezupften Töne, die Lottman im fünften Satz zu spielen beginnt. Mit der Hand im Nacken kreist Margaliot um die eigene Achse, als wolle er im Walzerschritt den immer wieder absackenden Kopf abschrauben. Als der letzte Satz kraftvoll durch die St. Matthäus-Kirche schallt, ist es, als würde die Musik den Tänzer von innen zerreißen. Und mit dem Ende des letzten Tons verfällt alles für einen Moment in perfekte Stille. Im Vergleich zum ersten Solo sind Tanz und Musik hier öfter in Synchronität. Diese für mich sichtbare Annäherung stammt wohl daher, dass der Choreograf der Musik Brittens eher auf Augenhöhe begegnen konnte, wie er im anschließenden Künstlergespräch berichtet. Die spielerische Unterhaltung zur Suite von Bach verwandelt sich zur Musik von Britten eher zum klar strukturierten Dialog. 


Die siebte Ausgabe des soundance festival berlin – Internationales Festival für zeitgenössischen Tanz und Musik findet vom 15.-18. Juni 2023 im DOCK 11 statt, Programm- und Ticketinformationen unter soundance-festival.de.

„Foreland – Bach und Britten“ mit Nitsan Margaliot (Tanz, Choreografie) und Isaac Lottmann (Cello) wurde Im Rahmen von soundance expanded am 12./13. Mai 2023 in der St. Matthäus-Kirche aufgeführt.