Listening Out Loud: Arbeiten von Zacharias (links), Ciupke & Dragičević (rechts) ©Zacharias/Ciupke&Dragičević

Aufmerken, bemerken

Die interdisziplinäre Veranstaltungsreihe Montag Modus lädt – zum ersten Mal online – dazu ein, die Wahrnehmung für unsere Innen- und Außenwelt zu schärfen. Zwei der über mehrere Tage verteilten vier Veranstaltungen – die Arbeiten von Siegmar Zacharias sowie von Christina Ciupke und Darko Dragičević – werden hier beschrieben.

Wieder befinden wir uns an diesem Punkt: Berührungen streng reglementiert, Kontakte beschränkt, Innenräume leergefegt, Kultur lahmgelegt. Wieder eine Pause also; bestenfalls um innezuhalten, nachzudenken, auszusortieren und einzusammeln. Worin könnte das Potential, in der Bedeutung eines Gewinns, dieser erzwungenen Unterbrechung liegen? Passenderweise hat sich die Veranstaltungsreihe Montag Modus dieses Jahr ein Thema gewählt, das darauf eine Antwort anzubieten versucht: unsere mangelhafte Aufmerksamkeit als Resultat einer Hyper-Aufmerksamkeit im digitalen Zeitalter der Postmoderne. Diese beschädigte, irgendwie ausgeleierte Wahrnehmungsfähigkeit zu trainieren, könnte der Gewinn sein, den die Pandemie-Krise hervorbringt.

Zwar ursprünglich live geplant, lädt uns „Listening Out Loud“, so der Titel dieser dritten Ausgabe der Serie „Ecology of Attention“, diesmal ein, durch virtuelle Räume zu wandern. Neben dem interaktiven Spiel „Manual for a Collective Play“ des Prager Trigger Collective und „Software“, einem Performance-Video von Julian Weber (online abrufbar ab dem 27. November 2020), haben sich Siegmar Zacharias sowie Christina Ciupke und Darko Dragičević entschieden, ihre Arbeiten vom 22. bis 24. November via Zoom zu präsentieren. 

Digitales Vogelgezwitscher empfängt mich, während ich vor meinem Laptop darauf warte, dass die Performancekünstlerin und Theoretikerin Siegmar Zacharias ihre Hörsession beginnt, um individuelle und kollektive Trauer zu thematisieren. Aber was betrauern wir? Den Verlust von Berührungen? Von Kollektivität? Von einer planbaren Zukunft? 

Nach einer kurzen Einführung in ihr Forschungsprojekt zu Trauer als kollektiver Praxis, beginnt die akustische Meditationssession. Listening, diese doppelte Bewegung des In-Sich-Hineinhörens und des Aus-Sich-Heraushörens soll hier ausprobiert werden. Jede*r für sich, und dennoch gemeinsam versuchen wir sowohl die eigene Innenwelt als auch die andere Außenwelt gleichzeitig wahrzunehmen. „To listen together alone“, nennt es Siegmar Zacharias. 

Atemgeräusche, tief und regelmäßig, wie Meeresrauschen, vermischen sich zunehmend zu einer dichten Klanglandschaft, in die wir hineingesogen werden. Ein Motor rumort, es quietscht, schnattert, raschelt, gluckert und schlabbert. Der Motor schnurrt, irgendetwas klackert und je länger ich zuhöre, desto körperlicher wird die Hör-Erfahrung. Bis ich mich in den rauschenden Blutbahnen eines Körpers wähne, durch ihn hindurchgesogen werde. Ein Wispern flüstert: „You, your body, (…) future, past, present (…) we cannot survive without many holding us (…) at the center of grief there is a present (…).“ Ein dumpfer Ton setzt ein und wir driften tiefer in einen gegenstandslosen, unendlichen Raum. Ein Raum, gefüllt mit Flüssigkeit; es gluckert, schmatzt und blubbert, knurrt und verdaut. Wieder wispert die Stimme: „To consent not to be a single being (…) you are not alone“. Bin ich jetzt zurückversetzt in „the past of my body“, in meine allerfrüheste Existenzform, die noch nicht vereinzelt in der intrauterinen mütterlichen Fruchtblase schwimmt?

Trotz der intensiven Klanglandschaft bleibt mir der Bezug zur Trauerarbeit unklar. Auch bleibt „ANIMAterialities“, so der Titel, der ein Verlebendigen von etwas Unbelebtem verspricht, weniger ein geteiltes Erlebnis und kollektives Ritual, als vielmehr ein einsames Rauschen durch meine eigene phantasmagorische Blase. Schade, denn gerade über das dieses Jahr so allgegenwärtige Thema Tod und Trauer und Einsamkeit hätte ich gern mehr erfahren. 

Die zunehmende Instabilität zwischen Artefakten und Umwelt steht im Mittelpunkt der Recherche von Christina Ciupke und Darko Dragičević, die am zweiten Abend via Zoom präsentiert wird. Für den zweiten Teil ihres über zwei Jahre laufenden und in Kapiteln gestaffelten Projektes beschäftigen sich Ciupke und Dragičević mit sogenannten Spomeniks, Denkmälern aus dem ehemaligen Jugoslawien. Unter Tito gebaut, erinnerten sie an die vielen Toten aus dem Kampf gegen den Faschismus – heute ist ihr antifaschistisches Pathos verdrängt und vergessen. Dem natürlichen Verfallsprozess ausgesetzt wuchert Gras über die Pfade, die zu den schroffen Monumenten führen, Beton bröckelt aus den Fassaden und legt die Stahlskelette in ihrem Inneren frei. 

In fünf performativen „Postkarten“ werden wir – eine begrenzte Gruppe von 15 Teilnehmenden – physisch mit dem Recherchematerial vertraut gemacht. Ein Vimeo-Link führt zur ersten Postkarte: wir blicken auf das Podgarić-Denkmal, das im kroatischen Berek steht. Wind dröhnt in meinen Ohren, Vögel zwitschern, Bienen sausen an mir vorbei, ein Hahn kräht. Die dramatische Architektur, ein brutalistisches Raumschiff, gestrandet im Nirgendwo, setzt den visuellen Kontrapunkt zu den akustischen Eindrücken der umgebenden Natur. 

Während die rein akustische zweite Postkarte unsere Imagination über die Architektur der Denkmäler anregen soll – ich habe wirklich das Gefühl auf dem Gras vor diesem vergessenen und verfallenden Monument zu sitzen – verschiebt uns in die dritte Postkarte an einen anderen Ort, in eine andere Zeit: ins heutige Berlin. Busse dröhnen, Fahrräder klingeln, Auspuffe knattern. In einer Brache stehen Ciupke und Dragičević in angespannter, mal starrer, mal mechanisch-ratternder Haltung. Sie performen Posen, die ich mir nur unklar als ein Verlagern und Übersetzen in körperliche Bewegung des Spomenik-Materials deute. In meinem Kopf setzt sich ungefiltert das Getöse des Großstadtlärms fort. 

Die vierte Postkarte reflektiert das akustische und visuelle Material auf einer Art Meta-Ebene. Die einzelnen Bewegungsscores der im Oktober 2020 während des OPEN SPACES-Festivals der Tanzfabrik gezeigten Arbeit werden beschrieben, während wir auf eine weite S-Bahn-Trasse blicken. Züge rauschen vorbei und in meinem Kopf entsteht das Zusammenspiel, ein Duett, das ich im Oktober leider verpasst habe mir anzuschauen. Aber die Trauer über Versäumtes wird kompensiert von der Faszination, die „Silent Trio Chapter#5: Digital Postcards“ in mir auslöst. Postkarte für Postkarte, Schicht für Schicht entsteht vor unseren Augen und in unseren Körpern eine Choreografie des gemeinsamen „Eingedenkens“, der allmählichen Herstellung einer Erfahrung, dass unsere alternden Körper Denkmäler sind – voller Erinnerungen: Solche, die wir wahrhaben wollen und pflegen und solche, die wir lieber verdrängen und verrotten lassen.


„Listening Out Loud“ mit Arbeiten von Christina Ciupke & Darko Dragičević, Trigger Collective, Julian Weber und Siegmar Zacharias findet seit dem 22. November 2020 online statt und ist die dritte Ausgabe der von Montag Modus veranstalteten Reihe „Ecology of Attention“. Über die Webseite der kuratorischen Plattform MMpraxis (https://mmpraxis.com) zugänglich sind aktuell noch die Online-Beta-Version von „Manual for a Collective Play” des Trigger Collective sowie ab dem 27. November 2020 die Videoarbeit “Software” von Julian Weber.