Pumpitopera Transatlantica, Mexa ©Ivi Maiga Bugrimenko

Auf dem Kontinent der Kolonisator*innen

Das Abwesende und die Lücken in der Mexa-Produktion Pumpitopera Transatlantica, die HAU2 am 19. und 20. Mai 2023 als Premiere auf der ersten internationalen Tournee des Kollektivs präsentierte, sind Absicht. Sie sind das Lebensblut einer Performance, die die Zukunft neu schreibt, ohne die materielle Realität von Vergangenheit und Gegenwart aus dem Blick zu verlieren.

„Sie ist nicht blind. Manchmal siehst du sie nur nicht.“

Tatsächlich erscheint Anita erst ungefähr zur Mitte der Show, als die anderen Performenden sie in ihren Rollstuhl heben und als Tiresias bejubeln. Der Abend ist fast vorüber, und sie steht im Zentrum der Bühne. Gehüllt in bauschig-faltiges Silber öffnet sie ihr langes Haar. Ihre Arme wirbeln hoch, als würden sie von der Hitze der Flammen getragen. Sie ist die blinde Prophetin. Sie ist ein Phoenix. Sie ist die Präsidentin des Mexa-Kollektivs, das dieses Stück schuf und performt. Anita tanzt. Auch die übrigen Performenden tanzen, um sie herum. Anita tanzt. Der Saal bebt in Licht und Klang. Anita tanzt zum Licht, sie tanzt aus ihrem Rollstuhl, sie tanzt gen Boden und nach oben zugleich. Anita tanzt.

„Wir empfinden in Sprachen, die wir nicht verstehen.“

Dourado spricht kein Französisch. Er sagt diese Worte auf brasilianischem Portugiesisch (übertitelt) und singt dann einen gefühlvollen französischen Song (nicht übertitelt). Fehlende Übersetzungen und Übertitel spiegeln die Witze, deren Pointen mir entgehen, weil ich kein Portugiesisch kann. Mir entgehen die Anspielungen, die sich auf Communities und Kulturen beziehen, denen ich nicht angehöre. Performende sind abwesend, und werden doch auf der Bühne beschworen. Podeserdesligado (Soundtrack und Sound Design) ist präsent. Während der gesamten Performance steht er am Sound Board und kommentiert immer wieder mit dem Part des nicht anwesenden Ensemblemitglieds Bárbara Britto: Wenn Bárbara hier wäre, würde sie sagen…

Mexa, ein Kollektiv von Müttern, Black-, Trans- und LGBTIQ*-Kunstschaffenden, Theaterleuten und Aktivist*innen aus São Paulo, entstand 2015 nach Gewaltausbrüchen in sogenannten Obdachlosenheimen. Mich fasziniert der Umgang von Mexa mit dem Fehlenden als etwas, das nicht verborgen oder repariert werden muss. Dies hier ist kein Fehler. Dies ist die Folge von Nichtübersetzbarkeit, Krankheit, Staatsgewalt, Familienpflichten oder anderen Prioritäten. Mit anderen Worten: Dies ist die Konsequenz des Lebens. Ich sehe die erste internationale Tournee von Pumpitopera Transatlantica und spüre intensiv und real, dass die Performance für Mexa so lebendig ist, wie alle Mitglieder des Kollektivs lebendig sind. Die Performance bewegt sich nicht nur durch die Gegenwart. Sie ist wandelbar, sie verändert und entwickelt sich. Wie aber will Mexa ihr Werk einpassen, damit es den Anforderungen europäischer Theater genügt? Wie können die Performenden Wiederholbarkeit, Vorhersehbares, Übersetzbares garantieren? „Unsere Inszenierungen sind jedes Mal anders. Wir spielen nie zweimal das gleiche Stück,“ erklären sie uns, ihrem Publikum, gleich im ersten Akt. Doch das ist kein Defizit in ihren Augen. Indem sie darauf hinweisen, indem sie ihre eigenen Lösungen finden, indem sie eine der fesselndsten und lebendigsten Live-Performances präsentieren, die ich seit langem erlebt habe, zeigen sie vielmehr, von wie viel wir uns trennen müssen, um den Bedingungen der diversen Institutionen zu entsprechen. Das schließt das Leben selbst ein.

„Hier sehen Sie keine Drag Show. Heute Abend zeigen wir eine griechische Tragödie.“

Pumpitopera spielt mit den Bausteinen der Institutionen der Kolonialgesellschaft. Das Material der Inszenierung ist Die Odyssee – die Quelle der Tropen, Typen und Narrative, die die aktuelle Realität formen und strukturieren, weil sie ubiquitär, überall verfügbar sind. Die Reise des Helden – eine Geschichte, die ein Kinohit nach dem nächsten reproduziert. Doch wir erfahren, dass die Tupinambá das Wort „Odyssee“ nicht kennen. Sie nennen es den „langen Pfad“. Aivan, in der Rolle der Erzählerin Ivana, beginnt die Vorstellung mit der Negierung aller zentralen Themen der griechischen Tragödie. Diese werden wir hier und heute nicht sehen. Jedenfalls nicht alle. „Manche Aufgaben sind unlösbar,“ sagt sie. Blutige Augen. Ihre, da eine weitere abwesende Performerin in einer Videoaufzeichnung die Performance erzählt. Sie befindet sich – in Echtzeit – im Krankenhaus und unterzieht sich gerade einer Katarakt-OP.

Warum überhaupt ODYSSEE? Nun, es handelt sich um die Geschichte des Odysseus. Also erleben wir im Laufe der Show TATIANEE, DANIELEE, DOURADOEE. Jedes Mitglied des Mexa Kollektivs liest das ihr zugeteilte Kapitel der Odyssee und wählt die Figur, die sie darstellen will. Patrícia entscheidet sich für eine Meduse, die im Text allerdings nicht auftaucht. Auch Dourado fand sich nirgends in der Sage, und beschloss, den Part seines Alter Egos – den Odysseus – zu übernehmen. In ihrer Koproduktion eignen sich die Performenden-Autor*innen Aivan, Alê Tradução, Anita Silvia, Bárbara Britto, Daniela Pinheiro, Dourado, Patrícia Borges, Tatiane Dell und Campobello spielerisch das Epos an, um es zu dekonstruieren und zu queeren. Sie kapern koloniale Eroberungsgeschichten und kehren sie einfach um, beispielsweise wenn der begnadete Schauspieler und Sänder Dourado rappt: „I’m on the colonizer’s continent / Are you proud of me, Mom?“ („Ich bin auf dem Kontinent der Kolonialisten. Mama, bist du stolz auf mich?“). Das Publikum ist begeistert.

Zum Thema Synkretismus, die Verbindung von Katechismus und indigenen Kulturpraktiken in den sogenannten aldeamentos – von Missionaren zum Zweck der „Zivilisierung“ und „De-Indigenisierung“ gegründete Siedlungen, deren Bewohnende unterschiedlichen Nationen angehörten – schrieb ein Jesuitenpater im 17. Jahrhundert: „[Die Tupi] lieben Musik. Daher können wir sie für uns gewinnen, wenn wir mit ihnen singen und musizieren.“ Ein paar Jahrhunderte später gewinnt Mexa das Publikum auf dem Kontinent der Kolonisierenden durch ihr Spiel mit uns, und mit der ganzen Power des Wissens, dass eine solche „Zivilisierung“ immer nur Transkulturation sein kann. Im letzten Akt der Vorstellung performt Taty das Vaterunser (ein „Werkzeug“, das bereits im ersten Jahr der jesuitischen Präsenz in Brasilien an „ihre Art des Singens“ angepasst wurde, „damit die jungen Indianer es schneller lernen und mehr genießen können“). Keine der westlichen Gottheiten ist heute Abend sicher. Wir schreiben die Zukunft neu. Wir haben euch entdeckt. Die letzten Provokationen mixen sich in Tatys Gebet. Was, wenn es nie einen Gott gegeben hätte, der nicht unser Antlitz trug?

Übersetzung aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese


Pumpitopera Transatlantica von Mexa feierte am 19./20. Mai 2023 im HAU2 Premiere. Weitere Aufführungen beim Kunstenfestivaldesarts in Brüssel vom 24.-26. Mai 2023.