Against the Grain, Photo: „Traces of an Offspring“, Veronica Lillo and Sylvia Remogio ©Riccardo Petranca

Against the Grain – Gegen den Strich

Against the Grain ist der Titel eines Abends der kurzen Tanzproduktionen, die Diversität feiern und, wie Gastgeber Manuel Meza in seiner Einführung hervorhebt, denen die „Türen öffnet“, die unter dem Aspekt Gender, race, ableism, aufgrund körperlicher Eigenarten oder anderen ausgrenzenden Faktoren ansonsten nicht in der Welt des Tanzes zu sehen sind. Gegen den Strich gebürstet wurde am 20. Mai 2023 im Theaterforum Kreuzberg.

Der Abend beginnt mit Bodies in Resistance [Körper im Widerstand], ein Stück des Performers und Künstlers Andrea Valenti unter der Regie von Felipe Fizkal. Es ist eine zarte, fragile Eröffnung, deren conditio sich in Linien in einer schweren, getragenen, fast stampfenden Bewegung über die Margen der Bühne fortschreibt. Die Kreativen betonen, dass ihre Produktion das Thema Migration und den Widerstand des Körpers gegen Vertreibung und politische Gewalt  – die Wandlung des vielleicht geleugneten oder verborgenen Nicht-Körpers in etwas, das sich gegen eine unsichtbare Macht manifestiert, thematisiert.

In Traces of an Offspring [Spuren eines Nachkommens] stehen zwei Tänzerinnen – Veronica Lillo und Sylvia Remogio – komplett weiß gekleidet (Kostüme: Minne Koopmans) in der Mitte der Bühne. Im Hintergrund ertönen klassische Klavierklänge, der Soundtrack impliziert ein tragisches Szenario, illustriert durch das sich gegenüberstehende Paar, zwei sich spiegelnde Figuren in einer Reihe geradezu sarkastischer, dramatischer Gesten. Das Licht scheint nun rot, der Soundtrack verzerrt, und das Stück wird zu einer Exploration des Intimen und dann der Trauer. Die Tanzenden kommen zusammen, indem sie sich – im wahrsten Sinn des Wortes – gegenseitig in ihre Kostüme hüllen und damit letztlich auf Stärke durch Solidarität und Verbundenheit verweisen.

Die dritte der sechs Produktionen trägt den Titel En Dewhore und präsentiert eine profund eindeutige und zugleich komische Rebellion gegen das inhärent Oppressive in jeder Form von Ballett. Rebecca Kenny beginnt mit einem schwungvollen Salto vom Bühnenrand aus und schleicht in einem mit falschen Brüsten bedeckten Kostüm über die grün ausgeleuchtete Bühne, um ihre jenseitige Kreation zu zeigen. In direkter Ansprache erklärt sie dem Publikum: „Ich bin wirklich menschlich. Mit all meinen Brüsten.“ Kenny koppelt auch eine Reihe brutaler Tropen zurück, denen die Technik des Balletts und seine Normen den Körper unterwirft. Das Publikum im Theaterforum in Kreuzberg sieht es gern. Extreme Wut manifestiert sich in dieser Produktion, die ihren Weg durch die Partizipation des Publikums findet und mit einem festiven HipHop-Höhepunkt abschließt.

In ﺯﻮﻤﺗ tammūz wandelt sich die Performerin Queen of Virginity, zunächst unter einem gigantischen rosafarbenen Plumeau versteckt, aus einem kokonartigen Zustand in eine irdischere Form. Im Verlauf ihrer Performance verändert sich auch die Klanglandschaft: Aus atmosphärischem Gepolter werden rhythmische Schläge, derweil Queen of Virginity das Publikum mit einem Science-Fiction-Szenario – oder ist es die Realität? – konfrontiert. Es ist der Bericht einer Ich-Erzählenden, ein Augenzeugenreport über Militäraktionen („tief fliegende Drohnen“, „ein Schlachtschiff“). Die Performance endet mit einer Reflektion als Erinnerung an den „wiederkehrenden Traum“, eine abwegige, futuristische Vision von Krankheit und Verbergen.

In No such virtue, eine der frischesten, aber auch schwierigsten Performances des Abends, erkunden Kristen Rulifson und Mei Bao die Dynamik von Intimität und Impakt. Über synchrone Muster, die die Musik uniform nachzeichnen, entsteht nach und nach eine Spaltung zwischen den Tanzenden, die ihren Ausdruck in Drängen, Schlagen, Boxen und anderen Formen von Aggression finden, die sich wiederum in Gesten der Zärtlichkeit und Nähe (Streicheln, das Bürsten der Haare) schmiegt. Tom Odells Another Love bereitet den Weg für ein Finale, das den Erstickungstod auf der Bühne evoziert. Es ist ein schönes, gefühlvolles Werk, in dem die Künstler*innen psychologisch komplexes Territorium erkunden und auf der anderen Seite mit triumphierender Resilienz und einer einzigartigen Choreografiesprache hervorkommen.  

Origins -the skin between us- (excerpt) markiert das Ende des Abends, eine Exploration der Apartheid, in der sich in der ersten Person wiedergegebene Voice-Over-Berichte mit der Choreografie von Selina Shida Hack mixen, ein Driften zwischen Soli und Trios der drei Tanzenden Gio Cruz, Nana und Yurika S. Yamamoto. Das Stück erscheint auf den ersten Blick fade und erinnert damit an den einen oder anderen Dokumentarfilm. Das täuscht jedoch über einige seiner feineren Nuancen hinweg: Die Tanzenden greifen den Sprachrhythmus der Voiceovers auf und bilden Konstellationen, die ausgewählte kleine Interventionen und ein sanftes, glissandoartiges Ende des Abends einleiten.

Heute Abend geht es um die Repräsentation der im Tanz Unterrepräsentierten. Die Zustimmung des Publikums nach der Performance ist ein Indiz, dass hier tatsächlich kollektive Energie entstand und genutzt wurde, um tiefer in die eher konservativen Kreise der Tanzinstitutionen vorzudringen.

Übersetzung aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese