„Open for Everything“, Constanza Macras ©Thomas Aurin

Offen für alles

Mit der Wiederaufnahme von „Open for Everything“ (2012) im VERLIN spricht Constanza Macras von unseren Vorurteilen über Roma und Sinti.

Sind wir ‚offen für alles’? Oder halten wir uns vor jemandem, der anders ist und nicht in unsere Kultur gehört, zurück? Oder sind wir ‚offen für alles’, im Sinne, dass wir alles aufs Spiel setzen, um unser Leben neu und besser zu gestalten, weg von Gewalt oder Armut? Mit der Wiederaufnahme von „Open For Everything“ (2012) im VERLIN spielt Constanza Macras mit beiden Motiven, um an kulturelle Grenzen zu stoßen, an denen sich Klischees, Missverständnisse und Diskriminierungen ansiedeln. Durch wilden rhythmischen Tanz, gefühlvolles Singen und episodische biographische Erzählungen rammt sie in diese Grenzen, um unsere Vorurteile zu verrücken. Im Stück geht es um Sinti und Roma, aber das Prinzip könnte auch auf jede andere Bevölkerungsgruppe angewandt werden.

2010 führt Macras eine Reise nach Ungarn, Tschechien und die Slowakei und durch die Tänze und die Musik der dort lebenden Sinti und Roma. Die entstandene Kollektion des Bewegungsmaterials und der Rhythmik dient dazu, die erzählten persönlichen Dramen und Erlebnisse besser zu verdauen. Es sind harte Geschichten, die von Gewalt gegen Frauen und dem Widerstand gegen Drogenkonsum erzählen. Aber es gibt auch Träume von einer regulären Arbeit oder einem friedlichen Leben, in denen auch wir uns wiedererkennen. Als Gegenpol zu diesen Stimmen erscheinen zwei stereotypisierende Nicht-Roma-Charaktere, die für uns als Identifikationsfiguren dienen: die rechtsradikale, fremdenfeindliche gutbürgerliche Dame und eine romantisierende Hippie. 

Auf der Bühne schieben zwei Männer ein braunes Auto, bedeckt mit an Louis Vuitton erinnernden Logos. Aus dem überfüllten Wagen (inkl. Kofferraum und Motorhaube) quellen fünfzehn Menschen heraus, während in einer nahestehenden Blechgarage fünf Musiker wie Sardellen aus der Dose erscheinen. Die Bewegungssprache ist eine Mischung aus Roma- und Sinti-Volkstänzen, Schuhplattler, Hip-Hop und Breakdance, aber weist auch Einflüsse von Flamenco und Bauchtanz auf. Zentrales Element im Volkstanz sind die Männertänze mit ihren vielen atemberaubenden Sprüngen und Körperperkussionen. Zwischen den Gruppensequenzen à la Bollywood und der auf „Fire“ von Adele getanzten Billy Elliot-Erzählung – einer Mischung von Hip-Hop, Ballett und Jazz – erscheinen die biographischen Geschichten der Figuren in ihrer eigenen Sprache (mit Untertiteln).

Die Erzählungen sind oft dramatisch. Hoffnung auf ein besseres Leben haben meistens die Frauen, auch wenn sie mit Bewegungen verknüpft sind, die anderes andeuten – ein Paar schießt sich gegenseitig an, während eine junge Frau singt. Die Erzählungen enttarnen Klischees wie das Nomadenleben oder die Arbeitslosigkeit – der Opa (ein Lehrer) erzählt von seiner seit einem Jahrhundert sesshaften Familie – und weisen auf Missverständnisse und Diskriminierungen hin, auf denen diese Klischees beruhen – wie wenn ein schreiendes Kind, das sich nicht seine Nägel schneiden lassen will, einen Polizeieinsatz wegen Gewaltverdachts auslöst. Nachsichtig beobachtet eine Madonna mit Heiligenschein aus einem vergoldeten Autorad diese Reise durch Klischees und Identitäten, Tragödien und skurrilen Humor, viel Rhythmus, guter Musik und sinnlichen Stimmen.