Fampitaha, fampita, fampitàna, Soa Ratsifandrihana @Harilay Rabenjamina

Was kann ein Körper (er)tragen?

Fampitaha, fampita, fampitàna, eine Choreografie von Soa Ratsifandrihana, präsentiert diasporische Körper als Träger der Vergangenheit und Protagonisten der Gegenwart. Die Produktion wurde im Rahmen von Tanz im August vom 16. bis 18. August im HAU2 gezeigt.  

„Ich rufe Haiti!“, sagt Performer Stanley Ollivier ins Mikrofon. Audrey Merilus tritt ins Rampenlicht und posiert für das Publikum, als wäre sie Kandidatin bei einem Schönheitswettbewerb. „Ich rufe Madagascar!“ bringt die Choreografin und Performerin Soa Ratsifandrihana mit Musiker Joël Rabesolo auf die Bühne. Zuletzt ruft Ollivier Guadeloupe und Martinique und kündigt damit seinen eigenen Auftritt an. Das rasche Intro- und-Reaktionsspiel offenbart nicht nur die Herkunft der vier Performenden sondern auch, dass sie für einen Mix aus Immigrant:innen der ersten, zweiten und dritten Generation stehen. So weit, so schlicht: Identitäten, definiert im Multiple-Choice-Verfahren, ein paar Häkchen, gesetzt auf einem amtlichen Formular. Die Realität ist jedoch, wie wir bald sehen werden, deutlich komplexer. 

Die Reise beginnt – so scheint es – im kolonialen Frankreich. Gehüllt in Petticoats oder in Reithosen gekleidet, mit langen weißen Handschuhen und Schärpen in den Farben der französischen Trikolore, erheben sich die Tanzenden auf die Zehenspitzen und folgen sich wiederholenden, symmetrischen Mustern durch den Raum. Irgendwann wird die unaufdringliche Eleganz zur Qual. Keine:r von ihnen scheint glücklich, mitwirken zu dürfen. Und doch lässt mich die nostalgische Musik und die Authentizität der verkörperten Bewegung fragen, ob ich eine Parodie der Heuchelei des barocken Versailles sehe oder ein trotziges Sich-Fügen in diese – und gewiss auch die eigene – Geschichte.

Die nächste Szene thematisiert Widerstand und Rebellion. In Neonshorts und kniehohen Silberstiefeln marschieren und springen die Tanzenden mit grimmiger, geradezu wütender Entschlossenheit in gitterartigen Formationen. Derweil pumpt Rabesolos funky Gitarrensound neben dem Gefühl des Gedrängtwerdens Elemente von Spaß in die Moves, deren an militärische Ordnung erinnernde Struktur permanent durch Momente von Virtuosität und Fröhlichkeit gebrochen wird. Die Tanzenden kopieren die Beats mit rhythmischem Hüftkreisen, und versuchen lachend und juchzend sich gegenseitig im Tempo ihrer Fuß- und Beinarbeit zu übertreffen. Damit unterminieren sie jegliche Versuchung meinerseits, sie als homogene Gruppe wahrzunehmen. Tatsächlich sorgen die Nuancen und Idiosynkrasien jede:r einzelnen Künstler:in während der gesamten Inszenierung dafür, dass ich sie konsequent als mehrere widersprüchliche Individuen wahrnehme. Diese Produktion handelt nicht von „der“ Erfahrung von Diaspora, als wäre diese einheitlich und global gesetzt, sondern von mehreren persönlichen Geschichten, die sich in die Vielfalt des Ganzen fügen.

Wie schon im Wortspiel des Titels – Fampitaha, fampita, fampitàna ist madagassisch für „Vergleich, Übertragung, Rivalität“ – setzt Ratsifandrihana Sprache wirksam ein, um globale Narrative ins individuelle Persönliche zu binden. Im Klassenzimmer aufgefordert, Zungenbrecher auf Englisch und Französisch zu wiederholen, resigniert Rabesolo schließlich, besteht jedoch auf seinem eigenen Zungenbrecher – in madagassischer Sprache. Er und Merilus – in der Rolle der strengen Lehrerin – werden zunehmend lauter. Die indigene Sprache erhebt sich gegen die koloniale. Das ist lustig, bis klar wird, was auf dem Spiel steht: Hier droht etwas, verloren zu gehen. Dies wird noch unterstrichen, wenn Merilus uns den Rücken zuwendet und ein berührendes Solo zu ihren eigenen kreolischen Worten performt. „Ich spreche meine Sprache mit mir,“ sagt sie. „Damit ich sie nicht vergesse.“ Physisch und sprachlich werden die Performenden in dieser Produktion permanent in diverse Richtungen gezerrt. Sie sollen sich anpassen und zugleich wehren. Auf großzügige Art und Weise gelingt Fampitaha, fampita, fampitàna, etwas von der enormen Dimension dieser Multituden zu vermitteln. 

Übersetzung aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese


Fampitaha, fampita, fampitàna von Soa Ratsifandrihana wurde im HAU2 vom 16.-18. August 2024 im Rahmen von Tanz im August gezeigt.