Boca Cova, Michelle Moura © Mayra Wallraff

Unersättlichkeit

Michelle Mouras BOCA COVA findet vom 20. bis 23. August in den Sophiensælen als Teil von Tanz im August statt. Wir befinden uns im Mund eines gefräßigen, unersättlichen Systems und werden am Ende durchgekaut und erneuert ausgespuckt.

Eine Maschine aus Mündern: Sie kaut, zermalmt, verschlingt, verschluckt alles ringsherum und spuckt es dann wieder aus. Die einzelnen Zahnräder der Maschine sind perfekt aufeinander abgestimmt. Im Takt, in der Bewegung synchron, flächendeckend – nichts kann ihr entwischen. Biss. Müde atmend, eine Maschine, die geölt werden müsste. Nie genug zu kriegen, verspricht Anstrengung. Doch der unersättliche Hunger ist genug Antrieb für dieses Gebilde. Eine koloniale, kapitalistische Maschinerie deren Gefräßigkeit Öl für ihren Motor ist. Ein Drang, der nicht gestillt werden kann. Ein Hunger, der die Gier tarnt und das Loch im Bauch: so groß, so überwältigend, dass alles andere schnell vergessen wird.

In Trance, benebelt, sie will immer mehr. More! Die einzelnen Akteurinnen feuern sich gegenseitig an, sind getrieben, ineinander, voneinander. Sie zerschmettern. Zerschmettern alles was ihnen in den Weg kommt, schließlich sind sie die Einzigen in diesem Raum, alles gehört ihnen. Wir, die Beobachtenden, sitzen rund um das Geschehen, zwar in etwas Entfernung, doch nahezu mittendrin. Plötzlich verlässt die Maschinerie das Zentrum des Raumes. Jetzt könnte sie überall sein, hinter uns, unter uns, uns verschlingen und zum Teil dieser unaufhaltbaren Maschine machen. Wenn wir es nicht bereits sind. Blicke ich in einen Spiegel? Beobachte ich andere Zuschauende gegenüber, wie sie einen Teil von sich, einen Teil von mir in der Maschinerie im Zentrum wieder entdecken?

Zurück zum Zerschmettern. In der Ekstase werden nun auch die Mitstreiterinnen gegessen, zerkaut, verschlungen. Auch hiervon hält der Hunger, die Gier nicht ab. Aus Durchgekautem wird Übelkeit. Die anderen erfreuen sich an dem Erbrochenen. Aber sogar die Krankheit kann wiederverwertet und zu Geld gemacht werden. Sie wird Teil des Rausches. Aus dem sich gegenseitig Aufessen wir ein sich gegenseitig Küssen. Ist Liebe in dieser turbo-kapitalistischen extraktivistischen Maschinerie denn möglich? Oder ist sie bloß ein anders Zahnrad um durch gegenseitiges Auffressen, Aussaugen das endlose Loch im Magen kurz zu stopfen?

Die Maschine verdaut sich selbst. Einzelne werden durch den Darm gezogen, im Versuch zu verdauen. Sie werden durchgequetscht, durchgepresst, ausgeschieden. Es scheint kurz so, als könne sich das Gebilde selbst kaum verdauen, kaum aushalten. Auch in diesem Schmerz findet sich Ekstase, das Geschehen geht weiter. Die einzelnen Teile werden aus der Maschinerie rausgezogen und wieder reingesogen. Die unendliche Gier hat sie alle fest im Bann. Auch ich erwache nach etwa 75 Minuten aus der Trance in die mich Boca Cova katapultiert hat. Die einzelnen Tänzerinnen sind mit ihren rhythmischen Schritten, ihren Stimmen, ihren Mündern zu einem übermenschlichen Etwas geworden. Gekonnt inszeniert die Choreografin Michelle Moura das Allgegenwärtige und trotzdem schwer Greifbare in Bewegung, Körpersprache und Rituale, die mich bewegt und nachdenklich zurücklassen. Die Mischung aus Stimmen der Performenden und dem Voice-Over der Klangkulisse macht das Geschehen zudem nah, greifbar und allgegenwärtig.