DREAM, Alessandro Sciarroni ©A. Sciarroni

Luftschloss

Entspannend, aber spannungslos und alles andere als ein körpergewordener Traum: Alessandro Sciarronis publikumsoffener fünfstündiger DREAM (2022) bei Tanz im August am 24. und 25. August in der St. Elisabeth Kirche. 

Sieben Tanzende um die Mitte dreißig bis Anfang vierzig, bekleidet mit schwarzen Gummistiefeln, zerschnittenen Netzstrümpfen und mehreren Schichten ausgefranster, dunkler Shorts, wiegen sich träge in der gruftartigen, lichtdurchfluteten Kapelle. In fließenden, vagen Bewegungen treiben sie isoliert durch Ströme, die keinen Endpunkt finden oder sich in schnelleren Spurts oder Wendungen willkürlich brechen. Sie graben, kratzen, schaben und riechen mit ihren Händen an unsichtbaren Objekten und Architekturen, wie durch eine romantische Laune abgelenkt, um dann ihren ätherischen Tanz fortzusetzen.

Wir, das Publikum, sitzen seitlich an den Kirchenwänden. Sciarroni stellt sich zwischen die Zuschauenden, geht umher, nimmt an anderer Stelle Platz, mittiger im Raum. Programmnotizen und Videoclips früherer Inszenierungen von DREAM, die ich online sah, lassen mich denken, dass er uns stillschweigend choreografieren möchte: Vielleicht sollen wir seinem Beispiel folgen, uns aus der Peripherie lösen, „wandern und neue Szenen entdecken“.

Im Zentrum des sakralen Saales steht ein Klavier, auf dem ein ebenfalls dunkel, in Schichten gekleideter und auf verschiedene Szenarien anspielender Pianist Fragmente aus Erik Saties Gymnopédies und anderen populären Klassikstücken erklingen lässt. Instrument und Musiker strahlen eine gewisse Erhabenheit aus. Für mich sind sie eine Reminiszenz an die schönen und zugleich generischen, meinen Kopf freimachenden, Klangstücke, die ich höre, wenn ich am Computer arbeite, um mich besser zu konzentrieren. Die subtilen Klavierrhythmen – leichte Akkordfolgen, Klangkaskaden – begleiten die Körper, die in meinem Blickfeld schweben. Kein Risiko hier, alles ist ruhig: Ich lasse mich treiben.

Die Performenden blicken mit glasigen Augen ins (N)Irgendwo. Hier und da ein mildes Lächeln, während sie nach oben starren, in den Raum hinein, der sie umgibt, andeutend, dass sich etwas Bestimmtes dort fände, dort in der Luft. Etwas, das die Träumenden sehen, doch nicht wir, die Zuschauenden. Erst als Edoardo Mozzanega in die Nähe meiner Nachbarin und mir tanzt und luftig in den negativen Raum zwischen unseren Schultern tastet, wird mir bewusst, dass unsere Gegenwart, die Anwesenheit des Publikums die Bedingung für eine Inszenierung ist, die zunächst als sieben Darstellungen des Zustands unbewusster, ‚träumender‘, individueller Selbstvergessenheit erscheinen. In meiner intimen Begegnung mit Mozzanegas Performance spüre ich ihn bewusst durch mich hindurchblickend, seine performative Strategie, die mir das Gefühl von Fantasie vermitteln soll. Ich bin Teil eines unsichtbaren Horizonts in einem Traum durch einen Akt, der nur möglich ist, weil ich da bin und weil er anerkennt, dass sich in mir die Realität der performativen Situation spiegelt.

Die Nähe gestattet mir, von winzigen, physischen Details Notiz zu nehmen: Ich sehe die Strähnchen seines Federohrrings, die Textur der Stoppeln, wenn er sich übers Gesicht streicht, die Falten auf der Hand, mit der er das Kinn eine*r anderen Zuschauer*in hebt, der*die gebannt eine andere Tänzerin beobachtet. Im Text zur Produktion nennt Sciarroni seine Tanzenden „fleischgewordene Kunstwerke“, die „still (und freudvoll) den Wunsch ausdrücken, unschuldig ohnmächtig zu sein“. Träume und Träumen bieten in dieser Performance eine voreingenommene Vision, die mich maximal suggestiv anregt oder bewegt und weniger das Potenzial der Träume abruft, denn beruhigende Vibes mit sentimentalem Unterton produziert.

Übersetzung aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese


DREAM (2022) von Alessandro Sciarroni wurde am 24. und 25. August im Rahmen von Tanz im August in der St. Elisabeth Kirche gezeigt.