Breathe, Milla Koistinen©Dajana Lothert

Dramatische Dribblings und hammerharte Helden

Tore, Tanz und Theatralik! Das größte Theaterspektakel des Jahres ist vorbei: Die Fußball-EM der Männer ist mit dem Sieg der Spanier gegen England zu Ende gegangen. Hier folgt ein Bericht über das spannende Viertelfinalspiel “La Furia Roja” gegen “Die Nagelsmänner” 

Ungewöhnlich: Variété-Bestuhlung in der Spielstätte, freie Platzwahl und Getränke erlaubt – ein zwangloses Setting für die hochkarätige Vorstellung, die zu erwarten ist. „Spanien gegen Deutschland“ lautet der Titel, ein Beitrag zur UEFA EURO 2024 oder, wie umgangssprachlich der Name dieses 1960 begründeten Festivals lautet: zur Fußball-Europameisterschaft der Herren. Angesetzt ist ein ebenfalls ungewöhnliches Format: ein Wettkampf zwischen zwei Ensembles, die sich als „Mannschaften“ gegenüberstehen. Ziel des regelbasierten und von einer Person mit Trillerpfeife live mit gestalteten Wettstreits ist es, mit Fuß oder Kopf einen Lederball in einen der beiden eckigen Kästen an den kurzen Seiten des sogenannten Spielfeldes zu befördern – das Tor des gegnerischen Ensembles. Wer die meisten „Tore schießt“, hat gewonnen und darf sich als Sieger inszenieren. So weit, so sattsam bekannt.

Ball am Fuß, mit Tempo über den Platz: Das verlangt einen hohen Trainingsstand und fast akrobatische Virtuosität von den (hier rein männlichen) Tänzern, deren Physis auf Sprinterqualitäten und natürlich auf die diesem Tanzsport gemäße Fähigkeit der „Ballbeherrschung“ ausgerichtet ist.

Zweimal Elf in gleichen Leibchen

Erster Blick auf die Bildschirme, auf denen das live in Stuttgart stattfindende, aber international und damit auch nach Berlin übertragene Ereignis stattfindet: Die austrainierten Leiber der Formationen, „La Furia Roja“ aus Spanien und „Die Nagelsmänner“ aus Deutschland, stecken in windschnittigen Leibchen. Jeder der je zehn „Feldspieler“ eines Ensembles ist mit Stollenschuhen, Wadenstrümpfen, kurzen Hosen und ärmellosen Trikots in Weiß beziehungsweise Rot ausgestattet, die Torwarte, deren Aufgabe die Ballabwehr ist, sind in Gelb beziehungsweise Schwarz gewandet (Kostümbild: adidas).

In der Stuttgarter Spielstätte, der MHP-Arena mit sagenhaften 50.998 Plätzen, sieht man die Ensemblefahnen, auch hier ist alles im Geiste des Wettbewerbs ausstaffiert. Die Laiendarsteller*innen im Publikum bilden Sprechchöre und sind durchweg als Fans ihrer jeweiligen Mannschaft inszeniert. Welch ein Schauspiel! Und was das kosten muss… In der im Vergleich winzigen Berliner Spielstätte holen sich die Zuschauer*innen ein letztes Getränk, die Zuspätkommenden – Nacheinlass kein Problem – organisieren sich Stühle und Hocker. Man rückt zusammen, wie vom Sitzplatz in der Galerie gut zu beobachten ist. Weckt das mannschaftlich organisierte Tanzspiel auch Solidarität im Publikum?

Impro-Choreo mit offenem Ausgang

Noch sind die meisten Augen nicht auf die Bildschirme gerichtet, in der sogenannten Eckkneipe sind Routiniers zu Gast, die mit Fußball-Inszenierungen vertraut sind und erst mit dem „Anstoß“ genannten Spielbeginn als Zuschauer*innen einsteigen. Im TV werden jetzt die Aufstellungen verkündet – jedem Ensemblemitglied kommt eine bestimmte Position und Funktion im Spielgefüge zu –, und weil die Inszenierungen beim vierwöchigen EM-Festival einen seriellen Charakter haben, sind dem Publikum die meisten Tänzer einer Mannschaft vertraut. Die Aufstellungen: Jeweils eine Viererkette in der Abwehr vor den Torwarten oder „Hütern der Kästen“, dem legendär gut beleumundeten Manuel Neuer und dem weit jüngeren, ihm aber fast ebenbürtigen Unai Simón Mendibil. Im Mittelfeld und dem Angriff setzt „La Furia Roja“ auf ein 2:1:3, während „Die Nagelsmänner“ mit einer 2:3:1-Formation antreten. Man steht sich also nicht Aug in Aug gegenüber, da jedes Ensemble den Auftritt unabhängig vom anderen vorbereitet, aber in ungefähr sind die Positionen deckungsgleich. Beide Ensembles gelten derzeit als in ähnlich exzellent, touren weltweit und treten bei den großen Festivals wie der Weltmeisterschaft auf.

Taktisches Geschick und ein kühler Kopf trotz des hohen Spieltempos sind bei der auf Improvisation und einen offenen Ausgang setzenden Choreografie entscheidend. Die Ergebnisse sind nicht vorab vereinbart. Alles ist möglich. Hart steigen beide Ensembles ein, das Gebot der Kooperation, des Abspielens und Aufeinander-Achtens, gilt nur innerhalb eines Ensembles. Dem „Gegner“ tritt man entschieden kämpferisch entgegen. Ein heftiges Beispiel in den ersten Minuten: Der deutsche Mittelfeldmann Toni Kroos holt sein Gegenüber, Pedro Gonzalez Lopez aka „Pedri“, zweimal mit solcher Wucht von den Beinen, dass dessen Knie ärztlich behandelt werden muss und er den Platz verlässt. Für den vergleichsweise alten Tanz-Recken Kroos, der hier als 34-Jähriger seinen vermutlich letzten Auftritt absolviert, gibt es erstaunlicherweise keine Verwarnung des Schiedsrichters. Für Pedri läuft Dani Olmo auf, und mit Blick vom Ende her muss man konstatieren: Dieser Wechsel war Kroos’ harten Angang nicht wert, denn Olmo wird einen entscheidenden Auftritt hinlegen. Dramatischer lässt sich das nicht skripten – die Improvisationsfähigkeiten der Ensembles sind erstaunlich.

Harter Kampf voll Eleganz

Der Ton dieser Begegnung ist früh gesetzt: Archaischer Kampf. Das Heroische, das dem Fußball zugeschrieben wird, gewinnt zeitweise die Oberhand. Als improvsationsbasierter Körperkontakttanz ähnelt das hier gebotene Match eher dem Football mit seinem Tackling als der geschmeidigen Contact Improvisation. Mit der anarchischen Unvorhersehbarkeit wiederum ist die Begegnung meilenweit vom ähnlich auf rigides Training setzenden klassischen Ballett entfernt. Eine interessante Hybridform.

Rasant geht es zu bei der Inszenierung „Spanien gegen Deutschland“. Von einer Spielfeldhälfte jagen die Ensembles in die andere, das rasche Umschaltspiel und den blitzschnellen, „Konter“ genannten Gegenangriff beherrschen sie beide. Wobei Spanien frühe Torchancen zu verzeichnen hat, Deutschland erst nachziehen kann, nachdem die beiden Mannschaften 20 Minuten nach Beginn ihr Tempo herunter regeln. Immerhin laufen die Spieler hier im Schnitt eine Strecke von durchschnittlich 15 Kilometern – beachtlich. Die Einwirkungen auf die Physis sind ohnehin immens. Man denke an die Scherkräfte, die bei einem Schuss auf den Körper wirken, oder die stumpfen Schmerzen nach einem Tritt oder Sturz… Fußballtänzer haben einen harten Job. Kein Wunder, dass ihre Profession so oft mit Verletzungen einher geht. Wenn man sieht, wie ein Antonio Rüdiger oder Robert Andrich den Ball über die Spielfeldlinien ins Aus holzen, fühlt man die eigenen Knochen deutlich.

Klingt alles ziemlich brutal? Jein. Ausbalanciert wird die Härte von der unfassbaren Eleganz dieser Profi-Ensembles. Wie die jungen spanischen Spitzen Nico Williams und Lamine Yamal über den Platz irrwischen, stets die Lederkugel am Fuß, oder wie sich Kai Havertz oder Niclas Füllkrug elastisch einem ihnen zugepassten Ball entgegenwerfen, um einen sogenannten Abschluss zu erzielen, das ist phänomenal. Tanz auf hohem internationalem Niveau. Eine Augenweide auch per Übertragung.

Aufwühlend spannungsvolles Spiel

Und: Selten sind die Darstellenden Künste so sehr mit extremen Emotionen verbunden wie im Fall dieses Kampf-Tanz-Spiels. In der Berliner Spielstätte, wo das Publikum der ersten Halbzeit mit gepflegter Kenner*innenschaft begegnet, steigert sich die Erregung nach dem Treffer des spanischen Dani Olmo in der 52. Minute immer weiter, bis sie sich bei Florian Wirtz’ Tor für „Die Nagelsmänner“ in der 89. Minute in unbändigem Jubel Bahn bricht. Verlängerung! 120 Minuten statt der regulären 90 Minuten, „Spanien gegen Deutschland“ mit einer Zugabe.

Phänomenal synchronisiert sich die Performance der Laiendarsteller*innen im Stuttgarter Stadion mit den Reaktionen der Zuschauer*innen in Berlin. Entsetzen herrscht, als die Hand des Spaniers Marc Cucurella dem Ball im Weg ist und einen vielversprechenden Schuss des deutschen Youngsters Jamal Musiala abfälscht. Das hätte regelgemäß doch ein Elfmeter sein müssen, ein Schuss Mann gegen Mann, Spieler gegen Torwart aus kurzer Distanz!? Aber nein, Schiedsrichter Anthony Taylor schaut nicht einmal auf den Videomonitor, der ihm in seiner Tätigkeit zu korrekten Entscheidungen verhelfen soll. Im Stadion gehen die Fan-Flaggen auf Halbmast, während zugleich die Wut hochkocht. Man kann kaum glauben, wie exakt die Bewegungen auf den Tribünen zuvor einstudiert wurden – eine fast schon beängstigende Massenchoreografie, mitreißend wie das Spiel.

Als-ob oder echte Emotionen?

Als in der 119. Minute, ganz knapp vor dem Ende der Verlängerung, das Siegtor für Spanien fällt, weil die Abwehr im deutschen Strafraum erneut zu viel Raum für Mikel Merino lässt, da schlagen viele im Publikum die Hände vor den Mund. Auf dem Fernsehschirm sieht man erste Tränen: Hier sind Schauspiel-Profis zugange. Oder werden die Darsteller*innen von echter Enttäuschung überwältigt? Geht die Identifikation mit „ihrer Mannschaft“ so weit? Eine solch überzeugende Immersion wie hier sieht man in den Darstellenden Künsten selten.

Am Schluss jubeln die spanischen Tänzer und Fans über das Ergebnis von 2:1, während die deutsche Mannschaft und ihre Anhänger*innen niedergeschlagen auf dem Feld beziehungsweise den Tribünen stehen. Hier die Ekstase des Sieges, dort die Ernüchterung der Niederlage: Nach den knapp 130 Minuten dieser spannungsvollen Inszenierung, die kein*e Dramaturg*in überzeugender hätte gestalten können, bleibt das kathartische Gefühl eines gemeinsam durchlebten Dramas, wie es gutes Theater seit der Antike kennzeichnet. „Spanien gegen Deutschland“ wird als beste Unterhaltung im Stil einer emotionalen Achterbahnfahrt in Erinnerung bleiben. Und als Partie voller staunenswerter körperlicher Skills und improvisatorischer Intelligenz bei beiden Ensembles. Alle Achtung.


Das EM-Viertelfinalspiel Spanien gegen Deutschland fand am 5. Juli 2024 in der MHP-Arena in Stuttgart statt.