LATE, Juli Reinartz ©Gerko Egert

­­­­Das Zentrum ist überall, der Radius nirgends

Am 22. und 23. Juni feierte LATE im Studio Storkower Straße 115 Premiere. In Form und Format eines (Tanz-)Balls arrangiert Juli Reinartz in dieser Produktion eine Landschaft der Koexistenz und des Wandels, um Crip Time zu erkunden: als Gleichzeitigkeit und Verschiedenheit von Körpern, die einen Raum teilen.

Ich muss mehrere Schritte gehen, bis ich in den „Tanzsaal“ gelange, in dem LATE aufgeführt werden soll. Auf dem Weg zum Gebäude entdecke ich große, neonfarbene Klebelettern auf dem Trottoir. „LATE“ steht dort, und Pfeile weisen auf eine Tür. Zwei Personen deuten auf eine weitere, grell-helle Ausschilderung eines Fahrstuhls, der mich in den vierten Stock bringt, wo wiederum Pfeile eine weitere Person signalisieren, die mir energisch zuflüstert, ich möge um die Ecke gehen, wo mich eine weitere Person einlädt, in einen Raum einzutreten und dort seitlich Platz nehmen, damit ich die Übertitel auf der Wand sähe. Wer auch immer mich empfängt und weiterleitet, lächelt freundlich und wünscht mir „Viel Vergnügen!“.

Ich lasse mich in ein gemütliches Sofa sinken. In diesem soft space liegen flauschige Kissen und Sitzsäcke an den Seitenwänden, Netze hängen von der Decke, zartrosa Licht streichelt den Saal. Ich entspanne mich. Der langsame, wechselhafte Beat der Klanglandschaft ertönt im Rhythmus meines Herzschlags. LATE ist ein Loop, die Choreografie wird dreifach wiederholt. Ich betrete den Saal ungefähr nach der Hälfte der ersten Schleife. Das Repetitive dieses Werks vermittelt mir ein Gefühl von Sicherheit im immanenten Wandel, und wir realisieren, dass die Loops keine Falle sind, sondern temporäre Zonen der Gleichzeitigkeit, mithin ein Format, das ich jederzeit verlassen kann.

Ich spüre Entscheidung, Handlungsmacht und Engagement im individuellen Agieren in der Gruppenbeziehung, die die Tanzenden in dieser Performance eingehen. Sie führen fließende, kreisende Bewegungen aus:  Dasniya Sommers Kopf senkt und hebt sich, Addas Ahmads Handgelenk gestikuliert, windet sich um Kopf und Brustkorb, wickelt sich spiralförmig um den Körper. Sie bewegen sich in distinkten, differenten Zeitsignaturen – Matilda Carlid in rasendem Tempo, Ariane Hassan Pour-Razavi in ihrem Stuhl arhythmisch und leise poppend ihre Schultern und Hände rührend. Das Neonband zieht sich im Zickzackmuster über den Boden. Runde Regung, gerade Bewegung: Pfade formen eine rasterförmige Raumordnung. Wir sind Gäste auf einem Ball. Der Tanz wandert von der Seite auf die Bühne. Seine Referenz ist die Beauchamp-Feuillet Notation für die höfischen Tänze des Barock. Die Tanzenden verbeugen sich voreinander, überlagern ihre jeweiligen Tempi und Rhythmen mit der historischen Zeit: Mich erinnert das an Folk Dance, Kotillons, Darcy und Elizabeth sich zur Musik wiegend in der BBC-Version von Stolz und Vorurteil oder an Becketts Quad. Anders als die genannten Beispiele aus dem Archiv erlaubt Reinartz‘ Choreografie jedoch eine Begegnung auf verschiedenen Zeitebenen.  

Die Beziehung zwischen den Performenden vermittelt sich durch unterschiedlich fähige Körper, Methoden und Aktionen als stark, vielseitig und wirkmächtig. An einer Seite des Raumes sitzt Silja Korn. Ihr Nagellack korrespondiert mit dem kräftigen Pink des Klebebandes, ihre Hände zeichnen Braille nach. An ihrer Brille hängen wunderschöne Juwelenketten. Sie bedecken Korns Augen. Ist die Seite, die sie illustriert, die Bühne, auf der sich die Tanzenden bewegen? Programmiert sie das Raster?

Der ‚Beginn‘ der zweiten Schleife wird zum Ende meines Besuches von LATE: Korn stellt sich als Gastgeberin vor und erläutert die zahlreichen Optionen, über die das Publikum Zugang zu ihrer Arbeit findet. Sie steht vor mir und ertastet die Braille, um ihren Text zu sprechen.  Ich höre sie Deutsch sprechen, und ich lese es auf Englisch und Deutsch als Schrift an der Wand. Wir reichen sie rum, erspüren die Textur der losen Bündel des herabhängenden Netzes und der flauschigen Kissen. Multiple Erfahrungsschwellen (über Kopfhörer lässt sich auch eine Audiobeschreibung verfolgen), schaffen eine meditative und inspirierende Situation des Zusammenlebens, der Zuwendung und generativer Abundanz.  Ich höre, ich lese, ich sehe Korn den Satz berühren: „Alle Räume sind Räume der Gleichzeitigkeit.“ Ich spüre dieses Wissen in meinem Körper. Dieser Ballsaal umfasst viele Zeiten und Register, ein Geschenk, das wir uns selbst machen, uns und auch anderen, indem wir gemeinsam und unterschiedlich Material physisch – mit unseren Körpern – interpretieren.

Übersetzung aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese


LATE von Juli Reinartz feierte am 22. und 23. Juni 2024 im Studio Storkower Straße 115 Premiere.