Anatomorphosen, Penelope Wehrli ©DieterHartwig

Auszüge aus einer Enzyklopädie der Zukunft

In der multimedialen Performance Anatomorphosen (20.-23.6.24, DOCK 11 EDEN) lassen Penelope Wehrli und ihr Team zukünftige Menschen und flüchtige Nebelwesen tanzen – in der Hoffnung, unsere Selbst- und Weltwahrnehmung zu verändern.

Der Homo Sapiens Tripedis nutzt seine Wirbelsäule als ein drittes Bein, durchschreitet den Raum schleifend oder auf Zehenspitzen, hält sich sehr aufrecht, doch den Oberkörper stets leicht geneigt, und flüstert gebetsartig leise Worte vor sich hin. Sein Verwandter Homo Sapiens Medusa wirkt mit seinen geschlossenen Augen und verlangsamten Bewegungen wie ein ferngesteuertes Pneumawesen. Bewegt vom Rhythmus seiner ruhigen Atmung, reißt er nur ab und zu die Augen weit auf oder stößt einen gellenden Ruf aus, den ihm das Echo des Raums zurückwirft. Schließlich der Homo Sapiens Sepia: Die spasmischen Bewegungen seiner einzelnen Körperteile vollführen ohne sichtbaren Zusammenhang Reste mir bekannter Alltagsbewegungen (ein aufgestütztes Kinn, ein auf etwas gerichteter Zeigefinger). Er scheint mit Seinesgleichen über räumliche Symmetrie zu kommunizieren.

In drei étuden-artigen Kapiteln verkörpern die Tänzerinnen Julek Kreutzer und Mariana Romagnani mit einer präzisen Artikulation ihrer eigenen anatomischen Strukturen diese drei zukünftigen Mutationen des Menschen. Dabei bewegen sie sich durch einen hellen rechteckigen Saal, der durch zwei quadratische Tanzteppiche in zwei Areale unterteilt ist. Auf beiden Seiten des Saals ist vor je einem wandhohen Fenster, umgeben vom Grün des Gartens, eine gitterartige Apparatur zu sehen, die unregelmäßig Wolken feinen Wassernebels in die Luft sprüht. Gesteuert werden diese Apparaturen durch Sensoren, die die Bewegungen der Tänzerinnen in Signale übersetzen. Immer wieder entstehen über ihnen neue Nebelgebilde, die mal dichter und mal lichter im Scheinwerferlicht schimmern.


©Dieter Hartwig


Je nach Perspektive und Interesse verfolgen wir im Publikum diese ineinandergreifenden Vorgänge in Körpern aus Knochen, Fleisch, Wasser und Licht gemeinsam oder zoomen mit dem Blick auf das eine oder andere Detail heran. Dabei stelle ich, die in der Mitte des Saals auf einem Kissen sitzt, mir irgendwann die Frage, inwieweit die Präsenz und Nähe der Zuschauer*innen zum performativen Geschehen in dieser Arbeit eine Rolle spielt. Denn einerseits kommen die Tänzerinnen dem Publikum zum Berühren nahe, andererseits scheint diese körperliche Nähe keine Anerkennung zu erfordern. Stattdessen strahlen die präzise gemeißelten Gesten etwas Hermetisches aus, Körper wie wandelnde Statuen.

Auch darüber hinaus steht für mein Empfinden in dieser Performance die ästhetische Gestaltung der einzelnen Elemente so weit im Vordergrund, dass meine Betrachtung eine rein äußerliche bleibt. Für die erhoffte Bewusstwerdung und Veränderung meiner eigener Wahrnehmungsprozesse ist hingegen wenig Raum. Sowohl die Schönheit in den Bewegungen und Nebelskulpturen, als auch die feine Poesie, die in den enzyklopädisch anmutenden Textintermezzi Penelope Wehrlis liegt, sind dennoch bemerkenswert und machen Lust darauf, sich eine Welt voller weiterer Anatomorphosen vorzustellen.


Anatomorphosen von Penelope Wehrli wurde vom 20. bis 23.06.2024 im DOCK 11 EDEN gezeigt.