Für das Foto wurde Adam Man von hinten über die Schulter fotografiert. Er sitzt auf der Bank. Sein Blick ist aus dem Fenster vor sich gerichtet.
Wo alle sind, Adam Man ©Wataru Murakami

Zeugnisse eines Platzes

Wo alle sind ist ein poetisches Ritual, das die Praxis des (Be)Schreibens und dabei/darin den öffentlichen Platz vor der Galerie Wedding erkundet. Vom 28.2. bis 28.3.2025 sitzt Adam Man täglich von 15-16 Uhr auf einer Bank in der Galerie und teilt seine Beobachtungen mit den Besucher*innen der Ausstellung.

Der Tisch steht am Rand des Feldes1. Sanfte Hügel, über denen links von mir die Sonne langsam höher in den Himmel steigt. Ganz gerade aus, etwa 300 Meter Richtung Horizont, eine Ansammlung von Bäumen und Gebüsch, daneben ein Jägerstand. Vögel zwitschern als wäre es heute die letzte Gelegenheit. Von weiter weg ein kehliger Ruf, vielleicht ein Kranich. Es ist kurz nach sieben, jene Stunde des Tages, in der außer an Sonntagen alle zur Arbeit fahren. Ich höre sie in meinem Rücken über die Landstraße rauschen. Ich reibe mir die Hände. Es ist kalt. So kalt, dass mein Atem beim lauten Überlesen der ersten Sätze dieses Artikels kleine Wolken bildet.

Lust zu sehen, was ist. (Zwei Rehe!) Das ist, was Adam Mans Performance Wo alle sind vor allem in mir ausgelöst hat. Es wird schlagartig still, wenn man den Galerieraum betritt. Nicht weil der Lärm von draußen nicht hierher dringen würde. Sogar das Fenster ist an diesem frühlingswarmen Tag geöffnet. Es ist vielmehr die metaphysische Stille einer Klosterzelle, die sich ausgebreitet hat. In dieser Stille sitzt Man, Block und Stift in der Hand, auf einer Holzbank des Berliner Grünflächenamts, wie man sie von Parks und öffentlichen Plätzen kennt. Die Bank ist zum Fenster und damit zum belebten Rathausplatz vor der Galerie ausgerichtet. Neben Man eine Menge dünner Papierstapel, Sedimente seiner Aufzeichnungen der vergangenen Tage. Seit Ende Februar kommt er täglich hierher, bezeugt und beschreibt, was er auf dem Platz, zwischen dem Platz und sich, sieht, hört, fühlt.

Das Foto zeigt Adam Man auf der Bank in der Galerie sitzend beim Schreiben. Links hinter ihm schaut sich ein*e Besucher*in der Ausstellung die Videoarbeit "The Tour" an. Da das Foto durch ein Fenster aufgenommen wurde, sieht man auf ihm auch den sich in der Scheibe spiegelnden Verkehr von der Straße vor der Galerie.

©Wataru Murakami

Ich setze mich neben ihn und die Papierstapel und blicke aus dem Fenster. Ein Mann zieht beim Telefonieren mit der rechten Schuhspitze Kreise in den Kies. Rechts hinter ihm zwei Frauen auf einer Bank und ein Kleinkind zwischen ihnen. Ein Schwarm Tauben schwingt sich in die Luft. Man hält mit dem Schreiben inne. Wir folgen jetzt beide – denke ich – den Vögeln. Ob er sieht, was ich sehe? Hinter dem Taubenschwarm taucht im blauen Himmel ein Flugzeug auf. (Ein Kondensstreifen kreuzt den blassblauen Himmel über mir von Ost nach West.) So viele Menschen, so viele Leben. Die beschreibende Betrachtung rückt sie auf Abstand, macht sie zu durch die Bewegung der Wahrnehmung aneinander geschnittenen Szenen, und bringt sie, insofern sie eine Verbindung einfordert, zugleich näher.

Das Foto bildet den Rathausplatz vor der Galerie ab. Der Himmel ist blau, es sind wenige Menschen unterwegs. Auf dem Platz stehen Laternen- oder Fahnenmasten und kahle Bäume nebeneinander. Im Vordergrund ein Stromkasten mit einem Werbeplakat mit der Aufschrift "50% OFF".

©Adam Man

Eines ist klar: Das tägliche Beschreiben und Archivieren der erlebten Augenblicke, das im Mittelpunkt von Adam Mans Performance steht, transzendiert den vermeintlich passiven Akt des Bezeugens und hebt ihn in den Stand einer – Zitat Natasha Marin – “heiligen Arbeit”2. Denn zu bezeugen heißt auch nicht auszuwählen, nicht auszuschließen, unsere Urteile über gut/schlecht, banal/bedeutsam, schön/hässlich zurückzustellen und damit die wundersame Einzigartigkeit jeder partikularen Existenz zu feiern, sei es die eines Baums (eines Windkraftwerks), einer Postbotin (des verlassenen Spinnennetzes an meinem Stuhl) oder eines im Wind flatternden Werbeplakats.


1Der Ort, der im ersten Absatz beschrieben wird, ist der, an dem die Autorin diesen Text schreibt. Die in Klammern und kursiv gesetzten Teile dieses Textes beziehen sich auf diesen Ort.
2Natasha Marin ist eine Schwarze Künstlerin und Kuratorin, die ausgehend von Erfahrungsberichten Schwarzer Menschen Ausstellungsprojekte initiiert und das Buch Black Imagination: Black Voices on Black Futures (San Francisco, 2020) herausgegeben hat.


Wo alle sind , eine Performance von Adam Man, kann vom 28.2. bis 28.3.2025 in der Galerie Wedding – Raum für zeitgenössische Kunst besucht werden.