Fil Rouge, eine Choreografie und Performance von Rossella Canciello, Paolo Cingolani, Ivaylo Dimitrov, Susanna Grob, Annukka Hirvonen, Anni Lattunen und Jonas Marx, entstand 2023/2024 während ihrer künstlerischen Residenzen in Berlin und Italien und war am 20. Juni 2025 im DOCK 11 beim the soundance festival berlin zu sehen.
Therianthropen
Da sind sieben Menschenkörper mit Tierköpfen: Amsel, Tiger, Schildkröte, Panda, Giraffe, Brauner und weißes Kaninchen. Lautlos bewegen sie sich, langsam, sanft, vorsichtig, stehend, sitzend, gehend, schlichte Gesten mit Händen und Armen vollführend. Meist beobachten sie die anderen von den Bühnenkanten. Ihre stille, doch zugleich beabsichtigt sichtbare Präsenz provoziert Resonanz. Hier und da berühren sie sich. Ihre geheimnisvolle Zärtlichkeit scheint die sie umgebende Luft zu benetzen.
Humane
Nach der Eröffnung verlassen fast alle Therianthropen die Bühne. Nur das Vogelwesen bleibt und nimmt die Maske ab. Ein menschliches Antlitz erscheint. Warum wird der Zauber so rasch gebrochen? Ich bin enttäuscht, will so früh im Stück das Gesicht hinter der Maske nicht sehen. Bald erscheinen die übrigen Performenden auf der Bühne, nacheinander, alle maskenlos. Als Menschenwesen wirken sie so ganz anders, denn als Tierkreaturen. Sie sind laut, reden, trampeln, atmen heftig. Sie tanzen komplexe Bewegungen, wenn auch nicht miteinander. Sie versuchen, den Raum mit ihren Stimmen und Moves zu füllen. Vergebens. Wann immer sie die Masken wieder aufsetzen – und das tun sie während der gesamten Inszenierung, in eigenem Rhythmus, so dass das Publikum einen Mix von Kreaturen und Humanen auf der Bühne sieht – verkörpern sie eine ruhige Gegenwärtigkeit, die alle Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Tanz
Drehen. Strecken. Schwingen. Heben. Kreisen. Stampfen. Berühren.
Gesten. Kleine Sprünge. Kurze Sprints.
Fließend. Vieldeutig.
Ich sehe Modern Dance.Sounds
Vogelzwitschern in der Ferne. Kommt es von draußen? Oder sind es eingespielte Klänge? Regen fällt, Donner grollt, erst lauter werdend, dann verhallend. Ein paar Soundtracks tönen en passant. Die Performenden plaudern in verschiedenen Sprachen (Italienisch, Englisch, Deutsch und in einer anderen Sprache, die ich nicht identifizieren kann). Sie reden schnell, über diverse Themen – Erinnerungen, Verlust eines Ehemanns, Tequila, Zähne und mehr. Mir gefällt, dass ich nicht alles verstehe. Die Worte sind dann nur Klang ohne Bedeutung.
Waschmaschinen
Der Mensch mit der Giraffenmaske sagt viel. Ich höre die Worte „Waschmaschine des Lebens“, die „im Kreis läuft“. Und dass „es nicht so heilig ist. Es ist eine Waschmaschine.“ Jemand ist „der Gott des Kühlschranks“, was „im Sommer nützlich“ ist. Und dass „sie“ fortging, um sich in Tibet zu finden, denn sie wollte eine wichtige Person werden. Für die Kleinstadt war sie nicht geboren. Je mehr Satzfetzen ich vernehme, desto mehr drängt sich mir der Gedanke an Maschinen, Motoren und Leben auf. Wenn unsere Leben Waschmaschinen sind, dann sind sie wertvoll vor allem in ihrer Funktionalität. Der Motor wiederholt ständig gleiche Bewegungen, um seine Aufgabe zu erfüllen. Das ist nützlich, jedoch langweilig. Dagegen wollen wir Menschen etwas Besonderes sein. Ständig suchen wir nach Wegen, aus der Masse zu ragen. Doch… lässt sich unser Bemühen nicht doch mit einem Motor vergleichen, der sich pausenlos weiterdreht? Vielleicht? Wollen wir nützlich oder besonders sein? Oder beides? Ist unser Leben am Ende nicht heilig? So zeigt mir doch, ihr tierköpfigen Kreaturen, wie ich meinen mentalen Motor abstellen kann.
Übersetzung aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese
Fil Rouge von Rossella Canciello, Paolo Cingolani, Ivaylo Dimitrov, Susanna Grob, Annukka Hirvonen, Anni Lattunen und Jonas Marx wurde am 20. Juni 2025 im Rahmen des soundance festival berlin aufgeführt.
