Am Ende ein Tanzmarathon: Mit Adam Russell-Jones‘ Performance Release the Hounds als entfesseltem Solo in der Krise schloss die 34. Ausgabe der Tanztage am 24. und 25. Januar 2025 in den Sophiensælen.
Trotz der drastischen Kürzungen im Kulturbudget des Berliner Senats zum Jahresende 2024 gab es auch 2025 eine neue Edition der Tanztage, das Festival mit dem Fokus auf Debutarbeiten junger Choreograf*innen, aktuell geprägt von knappen Kassen und vielen Soloperformances im Programm. Release the Hounds, eine Inszenierung für einen Tänzer ohne spezifisches Bühnenbild, symbolisierte die dem Tanzfest auferlegten Zwänge und präsentierte sich zugleich als Manifestation der Stärke des Tanze(n)s im Angesicht des krassen Mittelentzugs. Das Format des Alleinperformenden, als Antithese zum Gesellschaftstanz und als zeitlos-menschliches Ritual, war immer schon die Konsequenz prekärer Bedingungen und Blaupause des neoliberalen ästhetischen Individualismus‘ im modernen Westen. Beide Phänomene sind unauflöslich eingewoben in die spätkapitalistische Hölle, in der wir heute leben. Der Choreograf und Performer Adam Russell-Jones stellt sich dieser Realität bewusst und realistisch. Er ist der working-class dancer in der ökonomischen und strukturellen Krise, ein Körper, dessen Arbeit nicht materielle oder digitale Produkte, sondern Mehrwert generiert.
Eine einsame Gestalt betritt den Festsaal der Sophiensæle und lehnt sich an die unverputzte Wand, vor der seit Gründung des Theaters und Festivals 1996 unzählige Vorstellungen zu sehen waren. Er sinkt in sich zusammen, regt seine Gelenke, stützt sich schwer auf die Mauer, an der entlang er sich langsam von links nach rechts bewegt. Eine Collage aus Radio- und TV-Werbespots im Mix mit Oldies durchbricht den sich bewegenden Horizont der Erschöpfung und lässt mich tief in die Multiplizität dieses Körpers eindringen: ein Tänzer, ein Arbeitender, ein Mensch, der individuelle und kollektive Erinnerungen birgt und Geschichten von Kämpfen und Widerstand neu erzählt.
Langsam schält sich Russell-Jones in den offenen Raum, lässt den architektonischen „Mauerberg“, den er im übertragenen Sinn überwunden hat, zurück. Seine Tanz-Moves – schlicht und repetitiv in ihrem Rhythmus – offenbaren komplexe, spiralförmig angeordnete Sequenzen und stroboskopische Gewichtsblitze. Sein Körper repräsentiert Jahre ambitionierten Trainings und das weite Spektrum der hochqualifizierten Exerzitien des professionellen Tänzers. Russel-Jones beansprucht die Tanzfläche wie ein Stift, der getrieben von Bewusstseinsströmen über ein leeres Blatt huscht. Seine Bewegungen erinnern an die raue Intensität der Raves der 1990er Jahre, sie sind temporeich und repetitiv; seine Choreografie in Reduktion taucht ein in Moritz Haas‘ zunehmend heftiger pulsierende Klanglandschaft und priorisiert die maximal präsente Unmittelbarkeit der Gefühle. Ausgefeilte Formulierungen ergeben sich eher als natürliches Nebenprodukt denn als intentional. Sie gründen auf den dringlichen Komplexitäten, die diese Show zum Leben erwecken.
Nicht zu übersehen sind die Referenzen an die 1990er Jahre in Sound und Tanz. Wir erinnern die spannenden Tage in Berlin nach der Wende, ihre Verankerung in der Geschichte dieses Theaters und drei Jahrzehnte boomender künstlerischer Produktion, die die Stadt zu diesem kostbaren Hort machten, an dem Kunstschaffende wirtschaftlich überleben konnten und der jetzt zu verschwinden droht. Sie verweisen auch auf die Regierung Margaret Thatchers und ihre Konsequenzen für Cardiff, wo Russell-Jones in den Jahren des Mangels und der Kämpfe der Arbeiterklasse aufwuchs.
Schweißnass nach seinem exzessiven und graziösen Rave steht er nun vor uns, die Taschen nach außen gekehrt, Arme gestreckt, mit leeren Händen. Sein Tanz ist ebenso Aufgabe wie Ausdauer, Hingabe und Verweigerung: eine einsame, sanfte Heerschar. Russell-Jones’ Programm ist ein lautes und subtiles Zeugnis für die Verzweiflung und Ekstase des Tanze(n)s, ohne Ende in Sicht, ohne den Wunsch nach einem Ende, selbst wenn alle Lebenslinien gekappt sind. Sehenden Auges dem Abgrund zustrebend – das sind die Tanzenden, die nichts hält, außer unendlich-endloser Bewegung, die Rettung bringt und auch den Tod.
Übersetzung aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese
