Everyone here is a bit of a horse, Vera Shchelkina ©Onur Oezurt

Verkörperung auf Distanz

In einem bei den Potsdamer Tanztagen am 22. und 23. Mai 2025 präsentierten Auszug ihres im Master-Programm für Choreografie der HZT Berlin entwickelten aktuellen Stücks Everyone here is a bit of a horse, steuert Vera Shchelkina Begegnungen durch manuellen Kontakt.

Die Choreografin stellt sich vor, in einem Zelt vor der Fabrik Potsdam. Das Tutorial, so lässt sie uns wissen, wird in deutscher und englischer Sprache stattfinden. Ihr Vorschlag lautet, dass wir die „Tiere“ imitieren oder einfach beobachten, wenn wir etwas nicht verstehen. Sie startet die Aufnahme auf ihrem Handy. Eine Stimme erklingt aus der Lautsprecherbox. Drei Performende – Birte Opitz, Marta Ferraris, Marcel Casablanca – gesellen sich zu uns. Sie tragen von Maria Färber gefertigte Tiermasken – Dachs, Bär und Affe – und bewegen sich wie Vierbeiner.

Die Stimme aus dem Lautsprecher weist uns an, uns die Hände zu schütteln. Ich bewege mich von fremder Person zu fremder Person und spüre die Nähe und Distanz dieser allgegenwärtigen Sitte: Händeschütteln als Zeichen des Friedens, des Vertrauens und guten Willens. Mein Gesicht wird zur lächelnden Maske. Wir sollen experimentieren, heißt es nun. Wir streicheln, schnipsen, wedeln und klopfen uns gegenseitig auf die Finger und Hände, halten sie länger fest als bei der Begrüßung üblich, unser Blickkontakt senkt sich auf den Punkt, an dem unsere Hände ganz abstrakt Kontakt aufnehmen.

Als nächstes sollen wir die Finger krümmen und „Pfoten“ machen, um uns dann Pfote-an-Pfote zu begegnen, indem wir unsere gefalteten Finger aneinanderpressen. Die maskierten Tanzenden zeigen uns, wie Bewegung im Raum mit Pfoten als vorderen Gliedmaßen möglich ist. Ich spüre meine Hüftgelenke und das Gewicht, das auf meinen gekrümmten, nackten Fingern lastet. Ich rutsche an die Seite, ziehe mich zurück, entlaste meinen Hände vom kalten, harten Boden.

Jetzt sagen sie uns, wir sollen die Mechanik des Lächelns erkunden – Lippen gespitzt, Zähne zeigen. Wenn Affen lächeln, so erklären sie uns, signalisieren damit oft Unterwerfung, Angst, Furcht, aber auch, dass sie glücklich sind. Mich erinnert das an meine ganz menschliche Erfahrung mit dem Lächeln und seiner Bedeutung. Ist die Absicht hier, Lächeln durch die Brille der Primaten zu erfahren? Oder sollen wir uns deutlich erkennbar der Beziehung zu Affen unterwerfen? Auf Kommando lächeln im öffentlichen Raum, Lächeln als Performance, erscheint mir als Abgrenzung, als soziale Maske, hinter der sich meine ganz menschliche Unsicherheit und Angst verbirgt.

Shchelkina bleibt in der Nähe. Sie hebt den Lautsprecher hoch, über ihren Kopf, damit die Stimme über das Prasseln des Regens auf dem Zeltdach zu hören ist. Ihre Finger wischen öfter das Display des Telefons, um die Wiedergabe zu steuern, als dass sie sich zu Pfoten krümmen. Die Frauenstimme wechselt in eine tiefere, männliche Tonlage. Das Tutorial scheint nun von gottgleicher Allwissenheit beseelt. Shchelkina spielt die Rolle der Aufseherin. Warum realisiert sie das Tutorial nicht live und fördert damit gemeinsam aufgebaute Beziehungen anstelle einer geskripteten Vermittlung? Allerdings: Würden die maskentragenden Performer*innen sprechen, gerieten sie in Konflikt mit ihrer Verortung als nicht-menschlichen „Tieren“. Doch Shchelkina trägt keine Maske, und sie bedient ein technisches Gerät. Die Aufforderung zur Verkörperung ist lau. Jenseits vager Gesten – Pfoten, Tiermasken – fehlt reales Bemühen, sich in die Wahrnehmung, Physiologie oder Zeitlichkeit eines anderen Lebewesens hineinzufühlen. Das Skript hastet binnen zwanzig Minuten durch Anweisungen, eher ein Echo des beschleunigten Tempos eines technisch-vermittelten Menschenlebens, denn Einladung zu Eintritt in eine langsamere, sinnliche Welt nichtmenschlicher Existenzen.

Der Ton ändert sich, als wir aufgefordert werden, etwas Ledernes herauszuholen – eine Brieftasche, einen Gürtel, Stiefel – und die Oberfläche zu ertasten. Jetzt wird Reflexion durch Handeln, nicht durch Inszenierung möglich. Ich denke an die Tiere, deren Haut zu diesen Objekten wurden und wie schnell ihre Gegenwart ausgelöscht wird, damit sie dem Menschen nutzen. An dieser Stelle wird das Werk kurz zu dem, was es eigentlich versprach: eine taktile, verkörperte Auseinandersetzung mit dem Unwohlsein, das der Mensch heute empfinden sollte, da er andere Lebensformen über jedes Maß hinaus, alles andere als nachhaltig und extrem beherrscht, extrahiert und bestimmt.

Übersetzung aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese


Ein Auszug von Vera Shchelkinas Abschlussarbeit Everyone here is a bit of a horse wurde im Rahmen der Potsdamer Tanztage vom 22.-23. Mai 2025 gezeigt. Premiere feiert das Stück am 13. Juni 2025 am HZT. Tickets