Am 1. Februar 2025 versammeln sich Tanzschaffende und -interessierte in der Akademie der Künste am Pariser Platz, um über die angespannte kulturpolitische Situation in Berlin zu debattieren.
Tanz Macht Berlin ist die Auftaktveranstaltung des bundesweiten Vorhabens Strukturen & Strategien für den Tanz: Zehn Tanzbüros aus zehn Bundesländern verhandeln in gegenseitiger Unterstützung lokal den Tanz und entwerfen gemeinsam Zukunftsstrategien. Diese Veranstaltung bietet einen ersten öffentlichen Rahmen in diesem Jahr, um die Diskussionen und Forderungen des letzten Jahres trotz Haushaltsentscheidung weiterführen und ausweiten zu können.
Tanzmacht Berlin
Im Plenarsaal der Akademie der Künste treffen pünktlich 14.30 Uhr viele Akteur*innen der Berliner Tanzszene ein. Der Berliner Senator für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt, Joe Chialo, kommt verspätet. Doch da er auch früher gehen muss, wird mit der Begrüßung nicht gewartet. Nele Hertling, Direktorin der Sektion Darstellende Kunst der Akademie der Künste betont gleich zu Beginn die Idee der Veranstaltung: „Gerade der Tanz hat in seiner großen künstlerischen Diversität und vielfältigen Präsenz in Berlin eine Kraft über alle Grenzen hinweg, Menschen zu erreichen, dem mit Sprache nicht Sagbaren eine Stimme zu geben. Dafür muss der Tanz endlich die im Vergleich zu anderen Kunstsparten immer noch fehlende, gleichberechtigte Anerkennung in Gesellschaft und Politik finden. Es geht uns darum, das Wissen um die Strahlkraft und das große Potential dieser Sparte im öffentlichen und auch politischen Bewusstsein zu stärken und als einen unverzichtbaren Schatz für diese Stadt zu verstehen.“ Nele Hertling konzipierte diese Veranstaltung gemeinsam mit Professorin für Tanzwissenschaft an der Coventry University Prof. Dr. Susanne Foellmer. Letztere macht direkt deutlich, dass in der freien Tanzszene Berlins in den „letzten drei bis vier Jahrzehnten absolut Großartiges entstanden ist, um das wir weltweit beneidet werden. (…) Das ist keine Übertreibung. Es gibt keine Stadt auf der Welt, die eine so künstlerisch vielgestaltige Tanzszene hat, die auf durchweg hoch professionellem Niveau arbeitet und gestaltet. Und diese Szene verloren zu geben. Das kann sich Berlin schlichtweg nicht leisten, im mehrfachen Wortsinne. Tanz ist Zukunft. Tanz ist unsere Zukunft. Tanz ist Berlins Zukunft. Tanz ist zukunftsfähig.“
Nach weiteren Begrüßungen von Marie Henrion – und langem Applaus für den Erhalt des Ende 2024 noch gefährdeten Tanzbüro Berlin – sowie Steffen Klewar vom Fonds Darstellende Künste, melden sich die beiden Moderator*innen des heutigen Nachmittags: Tänzerin und Choreografin Alice Chauchat und Christophe Knoch von der Stiftung Zukunft Berlin. Als Einstimmung für die kommenden dreizehn Statements zum Tanz soll erstmal zwei Minuten gegähnt werden, um den Körper aufs Zuhören vorzubereiten. Ich sitze ein paar Reihen hinter dem nun endlich angekommenen Kultursenator Joe Chialo, der sich bei dieser Aufgabe zögerlich auf seinem Stuhl hin und her bewegt. Schon beginnen die Statements. Jede*r Redner*in hat genau vier Minuten Zeit.
Die ersten beiden Statements beleuchten die Situation des professionellen Nachwuchses der freien Tanzszene. Eva-Maria Hoerster vom Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz (HZT) Berlin unterstreicht, dass die Absolvent*innen des HZT die lokale und internationale Szene mitgestalten. Die Sparpolitik des Berliner Senats führt jedoch zu einer Situation, in der die Ausbildung zwar sehr gut sei, die Entwicklungs- und Berufschancen nach dem Abschluss hingegen immens schwinden. „Unsere Gesellschaft kann es sich nicht leisten, auf den Nachwuchs zu verzichten.“ Hannah Schillinger, Alumna des maC (Master Choreografie, HZT) fordert aus ihrer Perspektive als Emerging Artist eine „Stärkung und Diversifizierung der Eingangstüren“ in die professionelle Arbeit. Neben der Forderung, die Einstiegsförderung finanziell auf den neuesten Stand zu bringen und die Tanztage Berlin intensiv und langfristig zu unterstützen, spricht Schillinger von der großen Chance, die Mobilität zwischen freier Szene und festen Häusern zu stärken. „Es wäre ein Leichtes, bereits bestehende Strukturen aus Schauspiel oder Oper auf den Tanz zu übertragen, mit festen oder projektbasierten Stellen für choreografische Assistenzen neue Zugänge zu schaffen (…) und so Kollaborationen zwischen Choreograf*innen der freien Szene und den festen Häusern gezielt zu fördern. So könnte sich die künstlerische Avantgarde der freien Szene synergetisch mit den festen Häusern verbinden, Zukunftsfähigkeit beider gesichert und am Puls der Zeit gestaltet werden.“
Angela Alves ist Choreografin, Performerin und Tanzwissenschaftlerin mit einer chronischen Erkrankung. In ihrem Statement richtet sie sich direkt an Kultursenator Joe Chialo. „In Sachen Disability Arts steht Deutschland richtig schlecht da. Im Tanz aber sieht das ein bisschen anders aus: Behinderte, chronisch kranke und Taube Choreograf*innen haben in den letzten zwei bis drei Jahren die Tanzszene gerockt. (…) Die Kürzungen haben die mit Diversität und Inklusion gelabelten Fördertöpfe schwer getroffen.“ Das hat die direkte Folge, dass die schon geringe Sichtbarkeit für chronisch kranke, behinderte und Taube Künstler*innen komplett schwindet. „Herr Chialo, wie positionieren Sie sich zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention?“
Choreografin und Regisseurin Joana Tischkau bedient sich in ihrem Statement „ein paar von Joes Lieblingsvokabeln“. Immer wieder bekannte Verse aus Hip-Hop- und Rapmusik zitierend, berichtet sie aus ihrer Perspektive, auch als Bildungsaufsteigerin. „Started from the bottom, now we’re here. (…) Ich bin ein statistisches Wunder und meine Erfahrungen beschreiben nicht die Normalität. Ich als Schwarze Deutsche, abled-bodied und cis-Frau habe es geschafft durch das extrem kurze Zeitfenster der sogenannten ‚diversitätssensiblen Öffnung‘ zu sliden. Ein Fenster, welches sich beginnend durch das Erstarken rechter Politik als auch die aktuellen Kürzungen nun vollständig schließt. Das ist keine Teilhabe. Das ist anti-demokratisch. (…) Ich fordere ein ‚reales‘ Bekenntnis zu gesellschaftlicher Teilhabe und Demokratie. Meine Biografie soll keine Ausnahme sein, sondern Normalität. Es ist doch die politische Entscheidung Ihrer Partei zu sagen, wir haben Geld für die Polizei, Geld für Zensur, Aufrüstung, Geld für Grenzkontrollen und Geld für Abschiebung aber kein Geld für Kultur.“ Mit ihrer letzten Forderung „Move Joe, get out the way!“ heizt sie die Stimmung im prall gefüllten Plenarsaal endgültig auf. Die ersten vier Statements haben die Anspannung vieler der Versammelten spürbar erhöht. Immer mehr Zwischenrufe werden hörbar, der Sauerstoff wird langsam knapp. Doch neun Statements folgen noch.
Choreograf Christoph Winkler zählt auf, was er in seiner langjährigen Arbeit in temporären Kollektiven und Kollaborationen alles leisten konnte und was auch in seiner Realität auf dem Spiel steht. „Durch die bereits zurückgehende Förderung ist mein Team schon in Teilzeit. Wenn die Entwicklung so weitergeht, werde auch ich zum Teilzeitkünstler.“ Die langfristigen Kooperationen mit Schwellenländern werden damit auch bedroht.
Christian Spuck, Intendant des Staatsballett Berlin, betont die Bedeutung des Tanzes für Berlin aus seiner Perspektive und fordert eine „langfristige Planungssicherheit, um die Vielfalt und die Qualität unserer Arbeit sicherzustellen.“ In einem Saal voller Akteur*innen der freien Szene findet vor allem der Hinweis, dass die wichtigsten Choreograf*innen, mit denen das Staatsballett arbeitet, aus der freien Szene kommen, Anklang.
Auch Madeline Ritter, künstlerische Leitung und Geschäftsführung des Bureau Ritter, unterstreicht unter der Frage „Was trägt den Tanz?“, die sie mit der Frage „Was trägt unsere Gesellschaft?“ gleichsetzt, die Errungenschaften des Tanzes der letzten Jahre.
Sven Schabram, der stellvertretend das Statement von Annemie Vanackere (Intendantin und Geschäftsführerin des HAU Hebbel am Ufer) liest, hebt die Relevanz der Produktionshäuser hervor. Es entstehen „einzigartige Produktionen, die die Weltoffenheit Berlins in beide Richtungen befördern: die das Publikum in Berlin für die Welt begeistern und die Berlin für weltweit tätige Kulturakteur*innen zu einem attraktiven Ort machen.“
Livia Patrizi ist Leiterin von TanzZeit e.V., einer „Kulturinstitution an der Schnittstelle von Tanzkunst und Bildung.“ Ihr Konzept des „jungen Tanzhauses Berlin“ wurde im November 2024 nach der öffentlichen Ausschreibung des Kulturstandortes Lucy-Lameck-Straße 32 in Neukölln ausgewählt. „Ein Grund zu feiern“, sagt Patrizi, denn „wer sich Tanzkurse und Tanzausbildungen leisten kann, entscheidet später mit, welche Tanzkultur als legitim gilt – und welche nicht.“
Doch das Thema des jungen Tanzhauses wird in weiteren Statements mehrfach aufgegriffen. Denn die dafür vorgesehenen Mittel wurden mit dem Haushaltsbeschluss Ende Dezember 2024 durch die Berliner Politik auf Null gesetzt. Anfang 2025 hat die Kulturverwaltung dann ungefähr die Hälfte des ursprünglichen Etats in Aussicht gestellt, gewonnen allerdings durch die Umschichtung anderer Mittel des Tanzes: unter anderem wurden hierfür drei Maßnahmen des Runden Tisch Tanz geopfert, die nun nicht fortgeführt werden können. Karin Kirchhoff, die 2018 zusammen mit Elisabeth Nehring den Runden Tisch Tanz moderierte und koordinierte, berichtet genau davon. „Seit 2020 wurden sieben Maßnahmen zur substanziellen Stärkung des Tanzes umgesetzt. (…) Vier dieser Maßnahmen wurden bereits gestrichen; der Distributionsfonds schon im Sommer 2023. Die Mittel für nächste Schritte in Richtung eines Hauses für Tanz und Choreografie, für ein Tanzvermittlungszentrum und ein Tanzarchiv werden – wie wir gerade gehört haben – für die Bespielung der Lucy-Lameck-Straße umgewidmet. Auch wenn sie damit dem Tanz weiterhin zugutekommen, ist es doch extrem unglücklich, dass hier unterschiedliche Bereiche des Tanzes gegeneinander ausgespielt werden.“
Claudia Henne vom TanzArchiv Berlin und Elena Basteri vom Tanzvermittlungszentrum Access Point Tanz, bedauern auch in ihren Statements die Umschichtung der finanziellen Mittel, die ihnen keine Weiterentwicklung dieser für den Berliner Tanz wichtigen Vorhaben ermöglicht, und warnen davor, sich durch die Haushaltsentscheidungen gegeneinander ausspielen zu lassen. Sowohl machtkritische Diversitätsförderung, als auch ein Tanzarchiv dürfen nicht verloren gehen.
Abschließend spricht die freie Produzentin Elena Polzer, die in ihrem Statement viele Perspektiven bündelt und Wichtiges auf den Punkt bringt. „Uns war schon immer wichtig daran zu erinnern, dass Kunstmachen auch einfach solide Arbeit ist.“ Dem Kultursenator, der in einer Rede im November 2024 die Kürzungen unter anderem mit den Worten „wenn man es so wohl gebettet haben (…) will wie immer, dann ist man eben auch nicht mehr Teil des Lebens“ verteidigte, tritt sie entschlossen entgegen. „Wir waren hier noch nie „wohl gebettet“ in den freien Künsten. Wir waren immer schon prekär. Die Arbeit war nie nachhaltig, nicht einmal für die wenigen Künstler, die es bis zur Konzeptförderung geschafft haben. Wir haben immer mit Mangel gearbeitet. Nun ist quasi nichts mehr da, womit zu arbeiten wäre.“ Zusätzlich warnt sie: „Wenn wir jetzt den Gürtel noch enger schnallen müssen als zuvor, werden die kleinen Fortschritte der letzten Jahre hinsichtlich DGS, Audiodeskription, Relaxed Performances und anderen Formaten womöglich aufgrund Finanzierungsmöglichkeiten verschwinden. Das dürfen wir nicht zulassen.“
Die spürbare Spannung im Raum nach den 13 Vierminuten-Statements wird durch eine zweiminütige Atempause mit geschlossenen Augen minimal abgelassen. In der kurzen Stille kann vielleicht ein bisschen angestaute Wut oder Angst weggeatmet werden. Mit Alice Chauchats Worten „Jede Stimme hat einen Wert“ werden wir in eine kurze Pause entlassen, bevor 16.15 Uhr die Paneldiskussion beginnt.
Am Rande der Veranstaltung wird auch das Archivprojekt „Aging und Archiv – Uncertain States“ der Tanzcompagnie Rubato präsentiert. Fünf Bildschirme wurden aufgestellt. Auf vier von ihnen flickert Archivmaterial. Abgefilmte Fotos, Zeitungsartikel, Programmhefte und vereinzelte Videoausschnitte tanzen über die Bildschirme. Sie zeigen die Arbeit der 1985 von Jutta Hell und Dieter Baumann gegründeten Kompanie. In diesem experimentellen Archivformat, unterstützt vom TanzArchiv Berlin, konzentrieren sie sich auf Stücke, Kollaborationen und Gastspiele zwischen 1995 und 2002. Auf dem fünften Bildschirm erscheint ein Interview zwischen Journalistin Claudia Henne und den beiden Choreograf*innen. Sie blicken auf ihre lange Karriere zurück, besprechen Arbeitsprozesse, die freie Szene, die Arbeit mit Komponisten und das Altern auf der Bühne. Im Rahmen dieser kulturpolitischen Veranstaltung verkörpert dieses Projekt das Potenzial und all das, was gefährdet ist. Auf eine langjährige und kontinuierliche Arbeit zurückschauen zu können, ist ein großer Wunsch vieler Tanzschaffender. Kontinuität, das wurde oft betont, steht auf dem Spiel oder ist für viele gar nicht gegeben. Zusätzlich ist die Arbeit des Tanzarchivs bedroht, obwohl die Sammlung der vielfältigen Tanzszene Berlins von großer Bedeutung ist. Claudia Henne formulierte es in ihrem Statement: „Tanzgeschichte wird gemacht.“
Tanz, Macht, Berlin
Elisabeth Nehring moderiert die Paneldiskussion, an der außer dem Kultursenator Joe Chialo, auch die Künstlerinnen Isabel Lewis und Jasna Layes Vinovrški, sowie die Tanzwissenschaftlerin Prof. Dr. Susanne Foellmer teilnimmt.
Die erste Frage richtet sich an Chialo: „Was von dem vorher Gehörten resoniert in Ihnen? Wie hat das Gehörte ihre Sicht auf den Tanz beeinflusst oder verändert?“ Seine Antwort ernüchtert. „Der Referenzpunkt all dessen, was gesagt wurde, war der Runde Tisch Tanz 2018.“ Vor den aktuellen Herausforderungen sei das wohl nicht mehr haltbar. Die Runde müsse erweitert werden, um aktuelle Gegebenheiten aufnehmen zu können.
Auch die anderen Diskussionsgäste beleuchten kurz, was für sie nach den Statements nachhallt. Jasna Layes Vinovrški stellt die Frage nach der Kontinuität: „Wie können wir die Kontinuität nicht verlieren, denn wir verschwinden als Tanzszene. Und das ist ein Riesenverlust.“ Laut Isabel Lewis haben die Statements den Reichtum, die Diversität, das Potential der Szene deutlich gemacht. „Das Einzige, was den Tanz zurückfallen lässt, ist die fehlende Infrastruktur.” Susanne Foellmer charakterisiert den Modellcharakter der vielfältigen Perspektiven im Raum. „Ich habe das Gefühl, wir sehen eine Gesellschaft im Kleinen. (..) Tanz ist eine Stadt mit den verschiedensten Akteur*innen, die miteinander leben und arbeiten und das ist so ein Pfund, mit dem wir wuchern können.“
Elisabeth Nehring richtet sich erneut an den Senator. „Sie sitzen hier in einer Szene, die die Resilienz wirklich verkörpert und seit Jahrzehnten praktiziert. Da hätte ich gerne ihre Reaktion darauf.“ „Wenn ich das höre, dann hege ich natürlich eine große Sympathie für all diejenigen, die mit ihrer Kunst unser Leben, unsere Gesellschaft und unsere Demokratie stärken. Und dafür mein herzliches Dankeschön. (…) Die Rahmen, die wir vorfinden, sind Rahmenbedingungen, die wir hier in Berlin eigentlich noch nie in der Form hatten. Das hat eine Situation kreiert, die es nicht einfach macht, bei aller Wertschätzung der Breite der Kunst und dem Willen auch alle Künstler zu unterstützen, das eben auch umsetzen zu können.“ Joe Chialo forderte in den letzten Monaten oft von Kulturschaffenden und Kultureinrichtungen, wirtschaftlicher zu denken und sich ein Beispiel an der Clubkultur zu nehmen. Elisabeth Nehring fragt in die Diskussionsrunde, welche Qualität durch eine Kulturförderung möglich sei, „die durch eine wirtschaftlich aufgestellte Variante einfach nicht denkbar wäre“. Isabel Lewis wünscht sich “eine größere Vision davon, was Tanz sein kann. Der Tanz hat ein enormes soziales, kulturelles und politisches Potenzial. Es ist bereits aktiviert und muss nur kommuniziert werden. (…) Damit sich das entfalten und entwickeln kann, sind aber Ressourcen, Infrastruktur und Stabilität erforderlich. Ich denke, dass der Tanz Teil eines transkulturellen Reichtums ist. Er ist keine Form, die sich leicht vermarkten lässt. Und das ist keine Schwäche des Tanzes, sondern seine Stärke.“ Susanne Foellmer fügt hinzu: „Tanz ist resilient. Der ist so hier in Berlin entstanden, über Resilienz, mit einem wahnsinnigen Eigenengagement, um dann zu gewissen Strukturen zu kommen. (…) Und es muss weitergehen um diese Tanzlandschaft weiter blühen zu lassen. (…) Und man darf ja auch nicht vergessen, die Kultur ist Berlins Wirtschaft.“ Dennoch besteht der Kultursenator erneut darauf, dass die Arbeit mit Sponsoren eine valide Möglichkeit ist, zusätzliche und hilfreiche Mittel zu generieren. „Es ist nicht das Allheilmittel. (…) Sponsorings, wie wir sie in der Kultur erleben, sei es bei den Philharmonikern oder wo auch immer, das ist ein über Jahre gewachsenes Vertrauensverhältnis. Und mir ging es einfach nur darum, diesen Prozess einmal anzuschieben und vielleicht findet man auch jemanden, mit dem es wirklich Spaß macht, gemeinsam diesen Weg zu gehen.“
Auch das zuvor mehrmals erwähnte Thema des jungen Tanzhauses greift Chialo in der Debatte auf. „Es gibt eine Sache, die mich heute Abend tatsächlich auch ein Stück weit bewegt hat. Das ist die Debatte um das junge Tanzhaus.“ Die Reaktion darauf, dass das junge Tanzhaus letztendlich Mittel zur Verfügung gestellt bekommt, fiel in seinen Augen zu bescheiden aus. Das junge Tanzhaus bietet die Möglichkeit, einen erweiterten Zugang zum Tanz zu schaffen und „damit auch die Sichtbarkeit von Tanz in der Gesellschaft zu unterstützen. (…) Das ist eine Entscheidung, die gut ist und die man auch hier begrüßen sollte.“ Elisabeth Nehring stellt klar: „Es sitzt niemand hier, der die Bedeutung und die Notwendigkeit eines jungen Tanzhauses bezweifeln würde. (…) Aber ich benutze jetzt mal ein fieses Wort. Da ist ja auch ein Stück Kannibalismus dabei. (…) Wir wissen alle, dass da Mittel für die Strukturmaßnahmen des Runden Tisch Tanz reingeflossen sind und die Strukturmaßnahmen jetzt nicht weitergeführt werden. (…) Wie kann man das erklären, dass Investitionen von mehreren 100.000 Euro irgendwann im Sande verlaufen?“ Der Kultursenator protestiert direkt: „Diese Investitionen sind nicht im Sande verlaufen, weil wir vorhin darüber geredet haben, was Ergebnisse waren. Es ist ja nicht so, dass nichts umgesetzt worden ist, insofern war das schon gut investiertes Geld. (…) Ich glaube schon, dass es ab einem bestimmten Zeitpunkt durchaus wichtig ist und richtig ist, eine politische Schwerpunktsetzung zu machen.“ Es wird im Laufe der Diskussion deutlich, dass er sich immer wieder darauf bezieht, welche Akteur*innen Teil der Gespräche zum Runden Tisch Tanz waren. Er sieht auch in dem jungen Tanzhaus die Möglichkeit, Zugänge zum Tanz auszuweiten, „um in einer neuen Runde Tanz auch Akteur*innen und Leute mit einzubinden, die nicht zwangsläufig 2018 dabei waren, sondern auch anderen gesellschaftlichen Schichten entstammen und trotzdem mit Tanz zu tun haben.“ Diese Anschuldigung hinterlässt Spuren. Ich sehe mehrere Kopfschüttler und verzogene Gesichter. Susanne Foellmer erklärt deutlich: „Es gibt hier nicht die Tanzszene und diejenigen, die nicht gesehen werden. Ich glaube, das haben wir gerade heute wieder erfahren. Die Szene besteht aus Menschen aus allen Bevölkerungsschichten. (..) Es gibt viele Bildungsaufsteiger*innen. Die Szene ist gestaltet worden von Menschen aus verschiedenen Bevölkerungsschichten und wir sind jetzt an einem Level angelangt in den verschiedenen Bereichen, die so hoch professionell sind, dass es jetzt einfach den nächsten Schritt geben muss.“
Für die nächsten Schritte ist ein Dialog notwendig. Darüber scheinen sich alle einig zu sein. „Wir brauchen einen strategischen Entwicklungsplan, den wir gemeinsam aus dieser Situation heraus mit Blick nach vorne entwickeln. (…) Dieser Dialog ist wichtig und notwendig und der wird von meinem Haus auch angeschoben werden,“ so Chialo.
Isabel Lewis und Jasna Layes Vinovrški stellen jedoch fest, dass eine gewisse Grundanerkennung nötig ist, damit ein Dialog auf Augenhöhe stattfinden kann. „Wenn ich über diese größeren Themen nachdenke: Klimawandel, Globalisierung, Digitalisierung, dann sehe ich, dass die Tanzszene die Schwerstarbeit der Vermittlung von Körperwissen leistet. Dabei ist sie wahrscheinlich der historisch am meisten benachteiligte Bereich der Künste. Von meiner Seite aus geht es um einen Perspektivwechsel, um den kulturellen Wert dieser Szene zu sehen, anzuerkennen und für ihn einzutreten.“ Jasna Layes Vinovrški fügt hinzu: „Wenn wir einen Dialog führen, fände ich es großartig, wenn wir auf dem gleichen Stand sind, sodass wir zumindest anerkennen, dass es sich um einen Beruf handelt, der Kontinuität braucht, der eine Praxis braucht, und dass man als Tanzkünstler*in einen Raum braucht, um ihn auszuüben. Wenn wir also anfangen, Strategien zu entwickeln, dürfen wir dabei diese kritische Masse nicht verlieren, (…) weil das Förderungssystem tatsächlich gegen uns arbeitet und nicht für uns. (…) Sie führen einen Dialog mit uns, aber wir verschwinden vor Ihren Augen. Wollen Sie das?“ Joe Chialo sichert allen Anwesenden zu, dass er seine Bereitwilligkeit zu einem Dialog ernst meint. „Das Thema Tanz ist ein Thema, das ich wichtig finde und auch ein Thema, das nicht nur nach Berlin gehört.“ Endlich steht eine Person im Publikum auf und fragt nach einem konkreten Termin für diesen so oft erwähnten Dialog, der von ihr spontan als ovaler Tisch bezeichnet wird. Aber wir können uns ja vorstellen, wie voll der Terminkalender eines Senators ist. Und den hat er auch leider heute nicht dabei. „Sie können auch gerne eine Mail schreiben.“ Schade.
Der letzte große Schwerpunkt des Gespräches ist das Haus für Tanz und Choreografie. Aus den Diskussionen des Runden Tisch Tanz entstammte unter anderem das Ziel, in Berlin einen Ort ausschließlich für Tanz zu schaffen. „Ein finanziell abgesicherter Produktions- und Präsentationsort für Tanz und Choreografie, der in Ergänzung der einmalig diversen dezentralen Berliner Landschaft die enorme Produktivität des Tanzes bündelt und seinen Output für ein breites Publikum erlebbar macht“ (Quelle: Haus für Tanz und Choreografie | Überblick, Tanzraum Berlin). Susanne Foellmer, die Teil des Beirats für die Konzeptionierung eines solchen Hauses war, erläutert: „Tanz ist genuin. Er kommt aus der Physis, aus dem Körper, aus der Bewegung, kooperiert immer mit vielen verschiedenen Menschen. (…) Tanz braucht Raum und er braucht Zeit und er braucht physische Infrastrukturen. Auf diese Physis muss ein physischer Raum treffen und das Tanzhaus (…) sollte all das verbinden.“ Joe Chialo findet zunächst zustimmende Worte. „Das ist etwas, was notwendig ist. Ich finde es auch sehr überraschend, dass es in dieser Stadt kein prominentes Tanzhaus gibt, was das, was hier künstlerisch passiert, nach außen ausstrahlt. (…) Das ist auch etwas, was bei einem strategischen Entwicklungsplan eine zentrale Rolle spielen sollte. Denn der Gedanke darf auch in wirtschaftlich schweren Zeiten eben nicht zu kurz kommen.“ Doch eine „realistische Einordnung“, wie er es nennt, folgt direkt im Anschluss. „Weil man immer wieder den Eindruck bekommt, als ob hier der Tanz gar nicht gefördert wird, will ich hier mal was sagen. Wir fördern natürlich die Sophiensaele, wir fördern auch das HAU. Wir hatten dort Kürzungen vorgesehen von nicht unbeträchtlicher Größe. Und wir haben die Kürzungen zurückgenommen, (…) weil uns natürlich klar ist, dass internationale Exzellenz und auch die Arbeit, die im HAU geleistet wurde, fortwirken muss. Wir haben das Ballhaus Ost. Wir haben das Ballhaus Naunynstraße. Wir fördern den Friedrichstadtpalast, dort ist auch Tanz. Es gibt das Staatsballett. Tanz wird in Berlin gefördert und trotzdem fehlt der Kristallisationspunkt eines Ortes, bei dem man einfach diese Exzellenz auch sieht und wo von Berlin aus die Nachricht in die Welt geht. (…) Vielleicht bitte ich um Verständnis in dieser Situation und Zeit des Mangels. Und das ist nicht nur in Berlin so, sondern auch in anderen deutschen Städten. (…) Das ist eine große Herausforderung und die wollen wir unbedingt bewerkstelligen.“ Auf diese Rede folgt Stille. Er wünscht sich Applaus. Der folgt vereinzelt und zögerlich. Die Zuhörenden reagieren eher frustriert auf die Worte des Kultursenators. Protestäußerungen aus dem Publikum werden laut und verdeutlichen, dass ein moderiertes Panelgespräch ohne anschließende offene Diskussion mit den Akteur*innen vor Ort unbefriedigend ist. Für die Wut über die Sparmaßnahmen zeigt sich Joe Chialo zunächst verständnisvoll. Sobald die Anklage aus dem Publikum jedoch die umstrittene Antidiskriminierungsklausel und die Zusammenarbeit der CDU mit der AfD anspricht, wehrt der Politiker ab: “Now you’re talking bullshit.”
Kurz bevor Joe Chialo die Diskussion und den Raum verlässt, formuliert Nele Hertling aus dem Publikum eine klare Forderung an den Kultursenator: „Wir werden versuchen, so schnell wie möglich, und das war ein Ziel dieser Veranstaltung, einen Dialog zu starten. Ich habe noch eine Idee, die das Haus für Tanz und Choreografie betrifft. Sie wissen selbst besser als ich, solche neuen Projekte fangen an mit einem politischen Beschluss. (…) Nun müsste doch vielleicht die Politik einfach beschließen: Wir gründen in Berlin ein Haus für Tanz und Choreografie. Und dann können wir den Weg dahin beschreiben. Aber wir brauchen die politische Absichtserklärung. Das wäre unsere Bitte an Sie. Auf dieser Basis können wir mit einem Dialog anfangen, der uns in all den Fragen vielleicht weiterbringt. Und sonst vielen Dank und wir hoffen, dass es in einer friedlichen Weise mit uns allen weitergeht.“
Tanz macht Berlin
Die Verabschiedung des Kultursenators führt zu etwas, was ich nur als Öffnung vieler Ventile beschreiben kann. Es wird eine Pause benötigt, obwohl keine eingeplant war. Verteilt in der Akademie der Künste bilden sich Grüppchen von Tanzschaffenden und -interessierten, die sich nun austauschen, aufregen und absprechen können. Man hört viel Lob für die Sprecher*innen, oft den Wunsch in eine offene Diskussion mit dem Kultursenator zu treten und auch Enttäuschung über seinen Auftritt und den vorgezogenen Abgang. Es ist schwer, die aufgeregte Masse wieder in den Plenarsaal zu kriegen und den letzten Teil des Nachmittags, die Diskussionsrunde, anzustimmen. Nach einer erneuten zweiminütigen Atempause mit Alice Chauchat, sind die Gedanken wieder gesammelt und es kann losgehen. Die Diskussion findet unmoderiert statt, in die Mitte werden zu den Panelist*innen weitere Stühle gestellt, auf denen Personen Platz nehmen und Gedanken oder Ideen loswerden können. Eine Lücke bleibt jedoch: der Stuhl, auf dem Chialo zuvor gesessen hat und eigentlich noch immer sitzen sollte.
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