Vom 18.9. – 26.9.24 haben die Absolvent*innen des Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz (HZT) ihre Abschlussstücke gezeigt. Sie passen nicht in eine Schublade, aber ich finde, sie sind alle am Puls der Zeit – einer Zeit, die sich im Kreis dreht.
Wenn man dieser Tage in die Uferstudios kommt, steht dort eine Achterbahn¹. Das Fahrgeschäft ist kleiner als jene, die man vom Jahrmarkt kennt. An seinem höchsten Punkt mag es dreimal so hoch sein, wie ich selbst (1,62 m). Wer Lust hat, darf an dieser Stelle Kopfrechnen. Auch ist die Bezeichnung Fahrgeschäft eigentlich falsch, denn Geld wird hier keines gemacht. Statt Menschen jagt die Kunst-Achterbahn Objekte aus Pappmaché und Plastik im Kreis umher. Lautes Rattern begleitet ihre rasante Abfahrt. Vor jeder neuen Steigung hingegen ächzt es in den Seilen – bis der Kraftakt Erfolg hat und das beförderte Objekt sich wieder im Aufwärtskurs befindet. „The only way is round“ sagt mein Freund Yoad und meint damit jene Runden, in denen sich Körper, Gedanken und Gesellschaft oft im Kreis zu drehen scheinen. Um solche Runden geht es in diesem Text, der sich auf sechs von acht Abschlussarbeiten des BA-Studiengangs Tanz, Kontext, Choreografie bezieht.
Ich lasse die Achterbahn hinter mir und begebe mich in Studio 8. Auf einer in weiß gekleideten Bühne inszeniert Núria Carillo Erras clowneske Soloperformance The Numbers of this Performance are 20, 18, 20, 8 ein absurdes Spiel aus obsessiver Ordnung und gekonnt platzierter Unordnung. Ein Metronom tickt. Eine digitale Uhr springt im Hintergrund von 11:11 auf 23:23, 14:14, 18:18. Alltagsroutinen wie das An- und Entkleiden werden zu Choreografie, Gegenstände des täglichen Gebrauchs zu magischen Objekten. Das Motto des Abends liest Carillo Erra dem Publikum mit ernstem Gesicht aus einem Abreißkalender vor: „Woran Du fest hältst, das halte fest. Was Du tust, das tue und werde nicht müde.“ Eine feine und humorvolle Arbeit, die die stille Leidenschaft einer Suche nach dem Lebendigen in scheinbar leblosen Dingen, nach dem Sinn(lichen) inmitten der Banalität des sich wiederholenden Alltags spürbar macht.
Núria Carillo Erras | Sophia Obermeyer
©Dijana Zadro
Mit einer vermeintlichen Alltäglichkeit setzt sich auch Sophia Obermeyers 0 Euro, but Perfect Alignment auseinander. Es geht um die aufrechte Haltung, den aufrechten Stand. Während der darwinistische Evolutionsglaube diesen zweibeinigen Stand gerne heranzitiert, um an die Alleinstellung(!) des Menschen unter den Tieren zu erinnern, geht es Obermeyer vor allem um den berufsspezifischen Imperativ anmutiger Geradheit, um „perfect alignment“ eben. In vier Kapiteln experimentieren sie und ihre drei Kolleg*innen mit verschiedenen Möglichkeiten der „Unaufrichtigkeit“. Wir sehen gebeugte, liegende und einander zugeneigte Körper. Mal wild, mal zärtlich improvisieren sie mit Kontakt, üben sich in Unselbständigkeit und finden auf immer neuen (Um)Wegen zueinander. Alleinstehende, wird mir beim Zusehen klar, stehen nicht unbedingt schlechter, aber meist einsamer da.
Als ich eine Woche später wieder komme, ist die Achterbahn abgebaut. Die Einzelteile des Holzgestells stapeln sich auf dem Hof. Regen prasselt auf die nackten Balken, die jetzt horizontal da liegen und nichts Spektakuläres mehr haben. Dazwischen eine Leiter. Die verlassene Baustelle wirkt traurig.
Longing to Be ©Dijana Zadro
In Studio 8 ruht auf der Bühne im Halbdunkel Suet Wa Tams Körper wie eine Statue. Umhüllt von einem Klangteppich aus wabernden Dronen verbinden sich ihre langsamen Bewegungen wie zu einem Traum. Für Sekundenbruchteile tauchen projizierte Bilder, die sich kaum festhalten lassen, ihren Körper in Licht. Mich überkommt ein Gefühl von Nostalgie. Bevor ich darin versinke, ist allerdings Teil eins von Longing to Be schon vorbei. Tams Begrüßung (Teil zwei) rahmt die Performance als eine Buchveröffentlichung. From A to O sei eine Sammlung von Scores (Anleitungen). Mit ihrer Hilfe versuche Tam sich die Frage zu beantworten, was sie mit dem Tanz ausdrücken will. Score P („remember, recall, recollect, never forget“), den sie schließlich live performt, gibt Einblick in ihre Praxis der Selbstbefragung. Ich folge den Bewegungen und Worten, die die Vergangenheit herbeirufen, und da ist sie wieder: die Nostalgie.
Bevor ich darin versinke, erinnere ich mich, dass mein Programm nicht vorbei ist und eile ins Studio 11 zur Generalprobe von Lucas Godois No Time for Titles. Allerdings sei der noch gar nicht da, sagt die Fotografin. Eine Viertelstunde später öffnet sich die Tür zum Hof und von draußen schiebt sich ein durchnässter Lieferando-Kurier samt Fahrrad zu uns ins Trockene. Er wirkt überrascht. Die GP sei doch abgesagt. Er habe eben noch mit seinem Anwalt telefoniert, wegen seines Aufenthaltsstatus, und vorher war er für eine Krankschreibung beim Arzt. Sonst hätte er heute Abend die Performance absagen müssen. „Today, I killed my sister for the second time“, fügt er hinzu. Trauerfälle funktionieren für Krankschreibungen immer. Nach einigen weiteren haarsträubenden Anekdoten über deutsche Bürokratie, Migrationspolitik und Arbeitsrechte verabschiede ich mich – mit Godois Husband-CV in der Tasche, den ich verspreche, in diesem Artikel zu erwähnen.
Lucas Godoi
©Johanna Ackva
Auro Orsos PERREO ENTRE LOS MUNDOS, das ich bei meinem dritten und letzten HZT-Besuch ansehe, verhandelt auf ganz andere Weise die Komplexität globaler Migrationsbewegungen. Im Zentrum der Performance steht der Regaetón, der ursprünglich von Schwarzen Bewohner*innen Panamas praktiziert wurde und heute zumeist von weißen Menschen ohne jegliches Wissen über seine Geschichte vermarktet und konsumiert werde. In diesen Zwiespalt hinein begibt sich der transmaskuline Performer Orso, um die komplizierte Geschichte mit den schnellen und energetischen Hüftbewegungen seines Tanzes (perreo) aufzumischen. Wechselnde Konstellationen zwischen Performer und Publikum verhandeln die Bedeutung von Sichtbarkeit und Selbstfürsorge im Kontext einer Kritik an (post-)kolonialen Strukturen und binärem Denken. Schon vor dem Applaus jubelt das Publikum dem klatschnass geschwitzten Überkopf tanzenden Auro zu. Befreiung ist kein Punkt auf einer To-Do-Liste, macht diese Arbeit deutlich, sondern ein Prozess, der immer wieder aufleben muss und wird.
PERREO ENTRE LOS MUNDOS ©Dijana Zadro
Für Alejandro González‘ Then We Will Become Obsessed with the Idea of Losing Everything We Have Achieved fahre ich am selben Abend mit dem Fahrrad in die Schönhauser Allee. In der intimen Atmosphäre des eigenen Zuhauses tischt Gonzáles in kleiner Runde die Aromen seiner Heimat auf: Vorspeise ist ein in Bergkräutern gebackener Stein, den wir noch warm von einer Backe in die andere schieben, während der Gastgeber ein expressives Solo tanzt. Den auf dem Boden servierten Hauptgang rundet Gonzáles ab, indem er mit eingeölten Fußsohlen darüber hinwegschreitet, und das Dessert kann man nur im Duo verspeisen. Dieses Dinner ist vieles: soziale Choreografie, Akt der Beschwörung, geschmackliche Komposition. Nicht zuletzt macht es bewusst, dass das elementare Prinzip des Lebens ein Kreislauf der (An)Verwandlungen ist. „The only way is round.“
¹ Die Installation war Teil der Berlin Art Week.
Die BA Graduate Works des BA Tanz, Kontext, Choreographie vom Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz (HZT) wurden vom 18.9.-26.9.2024 gezeigt.