„Overtongue“, Michelle Moura ©Sebastian Runge

Sie sind diesem Druck ausgesetzt

TANZPLATTFORM 2022 >>> In „Overtongue“ entführt Michelle Moura ihr Publikum in die polymorphe Welt des Bauchredens und dissoziiert die Wahrnehmungen von Lauten und Körperlichkeit. Die Vorstellungen vom 23. bis 27. April in den Sophiensælen finden im Nachklang der Tanztage Berlin 2022 statt.

Der Hochzeitsaal der Sophiensæle ist verdunkelt. Schwarze Vorhänge umranden die Tanzfläche, auf dem schwarzen Vinylboden, der den gesamten Saal füllt, ist ein lilafarbener, glitzernder Tanzteppich ausgelegt. Aus den Lautsprechern kommen elektronische Orgeltöne (Sounddesign: Kaj Duncan David). Hinter dem Vorhang tritt Michelle Moura hervor in einer dunklen, kurzen Hose und einem abgeschnittenen grauen Hemd, von welchem Fransen herunterhängen. An ihren Beinen trägt sie grüne Kniestrümpfe aus Samt (Kostüm: Thelma Bonavita). Auf ihrer Stirn ist mit einem roten Klebestreifen ein Mikrofon befestigt, durch den starken Kontrast wirkt es wie ein Fremdkörper (Make-up: Kysy Fischer). Michelle Moura steht nun auf dem lila Tanzboden und schaut dem Publikum in die Augen, der Reihe nach, auch mir. Das Studiolicht ist auf sie gerichtet und wirft Schatten auf den Boden. Drei Schatten scheinen direkt an ihr zu haften, zwei weitere bilden sich in einiger Entfernung (Lichtdesign: Annegret Schalke). Michelle Moura atmet ein, fasst sich an den Bauch, fasst mit ihren Fingern in den Mund, knallt mit den Fingern an die Zähne, zieht den Mund auseinander, lutscht am Finger, schmatzt.

O, a, ai

Vokale kommen aus den Lautsprechern, aus dem Bauch? Ich frage mich, woher die Geräusche stammen, obwohl ich im Programmtext gelesen habe, dass die Performance mit ventriloquism arbeiten würde, der Technik des Bauchredens (Texte: Maikon K., Michelle Moura). Moura lässt ihre beiden Hände miteinander sprechen: „I like it.“„I really like it.“ – „So beautiful!“ – „Really beautiful!“

Ihre Hände wechseln in Gebetshaltung. „Who said it?“ – „I don’t know.“ –  „No!“

Michelle Moura schlägt mit ihrer Hand auf das Mikrofon auf ihrer Stirn, fasst sich dabei in den Schritt.


„I sense – that it doesn’t make sense.“

Sie räuspert sich, tanzt von links nach rechts, dreht sich im Kreis. Ihr Körper scheint ein Eigenleben zu führen, in Selbstgesprächen und Zungenrede vertieft, spricht sie mal auf Brasilianischem Portugiesisch, dann wieder in Englisch: „Com vôce“, „… and now in English!“

„I like … I am like you and the animals.“ „The animals are coming.“

Michelle Moura springt vom lilafarbenen auf den schwarzen Boden, das Licht wechselt ins Blaue und verdunkelt den Raum noch weiter. Die Tonhöhe der Stimme aus den Lautsprechern ist jetzt gepitcht, verzerrt. Moura mimt Fegebewegungen und tanzt, von karnevalesker Technomusik begleitet, in einer Sambavariation im Kreis und das Licht kreist stroboskopisch mit.

Lokomotivgeräusche formen sich durch Trommeln, Pfeifen und Sirenen.

„Dead, dead!“

Ein Telefon klingelt aus den Lautsprechern und überrascht die Zuschauer*innen, die daraufhin zu lachen beginnen. Michelle Moura zieht an den Fransen, die an den Brusttaschen ihres Hemdes befestigt sind und ahmt lautmalerisch muhend Kuhgeräusche nach. Es klingelt an der Tür. Moura liegt auf dem lila Boden und zuckt, imitiert Hundebellen. Ihr Körper ist eine Soundmaschine und führt als chimärer Organismus ein eigenes Leben.

„Guilty!“ „Not guilty!“

„Fuck you!” „Fuck me.“ „Nooo!“

Lachen im Publikum. Sie streicht mit den Händen über den Boden. Dann liegt sie regungslos.

„Are you dead?“

Es klopft. Nun regt sich der Körper.

„How many holes?“

„Constantly penetrated. Every day, every second, you are being penetrated. The birds in the sky, the president, they are penetrated … by an invisible demon. You are conducted to this pressure.“

Michelle Moura schießt mit einem imaginären Waffenglied um sich.

„What a gift to be penetrated. And if you refuse to be penetrated?“

Gefolgt von den drei Schatten an ihrem Körper läuft sie wankend durch den Vorhang hinaus. „It’s a miracle, it’s beautiful.“ Applaus.


Foto: Michelle Moura in „Overtongue“ © Sebastian Runge


Stimmen, Sprachlaute, Worte, Geräusche, Töne durchdringen unsere Körper jeden Tag, versetzen ihn in Schwingungen, leiten ihn, zersetzen ihn. Obwohl die Laute oft keinen Sinn zu ergeben scheinen, oder gerade deshalb, sind sie faszinierend. Durch die Vielzahl an Körperöffnungen kommunizieren Lebewesen – miteinander, gegeneinander, fremdgeleitet, onomatopoetisch, mit Stimmen, Geräuschen, Zeichen, Berührungen. Sprechen kann zur absichtlichen Tat werden, zu politischen, machtvollen, übergriffigen Handlungen, illokutionäre Sprechakte mit zukünftigen Auswirkungen. Es gibt Worte, die, wie leere Worthülsen, losgelöst scheinen von unseren Sehnsüchten, Wünschen, Bedürfnissen, und wiederum welche mit symbolischer, psychischer und physischer Kraft Sie sind diesem Druck ausgesetzt, jederzeit, in jeder Sekunde.“

Michelle Moura untersucht diese verschiedenen Kommunikationsformen und dissoziativen Ausformungen von Lauten und Stimmlichkeit und hält uns Zuschauende in Ungewissheit darüber, woher die Geräusche stammen, obwohl sich auch manchmal ihr Mund synchron zu den gesprochenen Worten und Sätzen bewegt und mit den Sounds aus den Lautsprechern in einen mehrstimmigen, sich überlagernden Dialog tritt. Der Inhalt der einzelnen Wortfragmente gliedert sich im Nachhinein gelesen in einen Gesamttext. Unterstrichen wird ihr polymorphes Stimmgewirr durch die Extensionen, die an ihrem Körper, an ihrer Kleidung haften, die Fransen, Bänder und Schatten. Ich hätte ihr noch eine Weile dabei zusehen und zuhören können, wie sie und ihr Körper in ihren eigenen Welten vertieft Prota- und Antagonistinnen mimen und zugleich diese beiden Zuschreibungen auflösen.


„Overtongue“ von Michelle Moura war im Rahmen der Tanzplattform 2022 am 19. und 20. März an den Sophiensælen zu sehen. Da die Position im Januar bei den Tanztagen Berlin 2022 pandemiebedingt nicht präsentiert werden konnte, wird „Overtongue“ vom 23. bis 27. April erneut an den Sophiensælen gezeigt.


Choreografie und Performance: Michelle Moura / Dramaturgie: Maikon K / Texte: Maikon K, Michelle Moura / Ton: Kaj Duncan David / Lichttdesign : Annegret Schalke / Licht: Cathy Walsh / Kostüm: Thelma Bonavita / Maske: Kysy Fischer / Vorhang: Sonja Jokiniemi / Distribution: Something Great