When I Saw the Sea, Choreografie von Ali Chahrour, feierte am 02.06.2025 im HAU 1 Europa-Premiere. Performance: Zena Moussa, Tenei Ahmad, Rania Jamal. Musik: Lynn Adib, Abed Kobeissy
Geblendet von einem riesigen Scheinwerfer, der sich in der Bühnenmitte befindet, wartet das Publikum auf den Beginn der Performance. Sie beginnt mit einem lauten, dumpfen Knall. Danach wummert und dröhnt es laut über die Bühne und durch den Saal. Dies markiert den Krieg zwischen Israel und der Hisbollah. Es werden arabische Sprachnachrichten hörbar. Nachrichten der Sorge um die eigene Familie. Wegen des Scheinwerferlichts sind die deutschen und englischen Übertitel kaum lesbar. Einzelne im Publikum neigen sich nach vorne oder zur Seite, manche halten eine Hand schützend gegen das grelle Licht, um den Text besser lesen zu können. Es wirkt, als seien alle mitten im Geschehen. Es gibt kein Entrinnen.
Ehrlicher könnte diese Performance kaum sein. Choreograf Ali Chahrour hat dieses Stück gemeinsam mit den drei Tänzerinnen Rania, Zena und Tenei erarbeitet. Die drei erzählen ihre eigenen persönlichen Geschichten, die mit dem Kafala-System1 verwoben sind. Sie erzählen sie roh, unverblümt, kraftvoll. Zena erzählt von einer hoffnungsvollen Ankunft im Libanon, vom Schlafen auf dem Badezimmerboden, von 6 Stück Käse, die sie in der Woche von ihren Arbeitgebern zu essen bekommen hat.
Sie erzählen. Sie tanzen, sie fallen, sie wanken, sie drehen und sie halten sich gegenseitig. Sie stampfen und sind dabei laut und sichtbar. Genau das wollte Chahrour erreichen. Sichtbarkeit für die Unsichtbaren, die lange versteckt, misshandelt und im Krieg zurückgelassen wurden. Der Choreograf spricht nicht über sie und lässt auch nicht über sie sprechen. Er gibt ihnen eine Stimme, die sie nicht bemitleidet, sondern stärkt.
Das Stück zerrt die Katastrophen und Krisen der Zeit vor unsere Augen. Im Libanon wurde es sowohl vor Profiteuren des Kafala-Systems, als auch vor Angestellten, die unter dessen Repression leiden mussten, gezeigt, berichtet der Choreograf im nachfolgenden Publikumsgespräch. Hier in Europa sehen es die, die sich vielleicht zuletzt während der Fußball-WM 2022 in Katar mit dem Kafala-System auseinandergesetzt haben. Chahrour scheut sich nicht, diese teils grausamen Geschichten auf die Bühne zu bringen und zeigt damit, dass die heutigen Krisen nicht losgelöst von uns und unseren eigenen Geschichten sind. Sie weisen darauf hin, dass die kolonialen Verhältnisse auch heute noch wirken und hinterfragen gleichzeitig den Umgang mit Migrant*innen, ob in Europa oder in den arabischen Staaten.
Choreograf Chahrour bringt nicht nur eine Krise in unser Bewusstsein, er macht diese Krise auch zum Problem der Zuschauer*innen. Das macht er, indem er das Publikum in die Geschichten der drei Frauen einbezieht. Wie gebannt schaut man der Assemblage aus Sprache, arabischer Musik, mit arabischem und amharischem Gesang und Tanz zu. Die Musiker*innen und Performer*innen stützen sich gegenseitig. Jeder Ton, jede Bewegung und jeder Satz gehen fließend ineinander über und werden so zu einem kraftvollen Zusammenspiel. Ohne dies wäre es einfach eine weitere Nachricht über Krisen. Doch diese Geschichten, die Bewegungen und die Musik hallen nach.
1Das Kafala-System ist ein in arabischen Ländern verbreitetes Arbeitsverhältnis, bei dem meist ausländische Arbeitskräfte durch eine Bürgschaft an ihre Arbeitgeber gebunden sind, was häufig zu ausbeuterischen Bedingungen und eingeschränkter Freiheit führt.
When I Saw the Sea von Ali Chahrour, feierte am 02.06.2025 im HAU1 Premiere.