Songs of the Wayfarer, Claire Cunningham ©Sven Hagolani

Schaukelnd und zaudernd, hinkend und tanzend…

bewegt sich Claire Cunningham als Fußreisende mit und ohne Stab/Krücke durch den Theaterraum. Zugleich begibt sie sich mit Songs of the Wayfarer (14.-16.11.2024, NO LIMITS Festival) auf eine metaphorische Reise durch das Leben.

Seit ich hier und da erwähne, dass ich in zwei Wochen nach Schottland fahre, höre ich immer wieder, wie schön die Highlands seien und dass ich dort unbedingt wandern gehen solle. Ich bin mir nicht sicher, ob im Dezember die beste Witterung dafür herrscht, aber meine Wanderlust hat Claire Cunninghams Solo allemal geweckt.

Die Exkursion beginnt mit den Vorbereitungen oder besser: dem Verkünden der Wettervorhersage. In Regenjacke und Wanderstiefeln, den Rucksack geschultert, die Krücken/Stöcke in der Hand, verliest die schottische Künstlerin von einem Stuhl in der ersten Zuschauer*innenreihe aus, was zu erwarten sei: Dunkelheit, laute Musik, Gesang, und schließlich sie selbst, die sich hier und dort den Weg durch das Publikum bahnen wird. All das wird einmal als Trockenübung demonstriert. Nur der Humor dabei ist nicht trocken.

Das kurze Präludium ist eine witzige und elegante Lösung, um dem Stück jene (Zugangs-)Informationen voranzustellen, die die Künstlerin, die seit 2023 auch eine Professur für Choreografie, Performance und Disability Arts1 hält, als wichtig für die gemeinsame Reise erachtet. Eine Reise zu Fuß, auf der Schritte Raum und Zeit vermessen und die vier Ecken des Raums zu den vier Enden der Welt werden. Die romantische Deutung der Wanderschaft als Symbol für das Leben klingt nicht nur in den Auszügen aus Gustav Mahlers Lieder eines fahrenden Gesellen an, die Cunningham mit unglaublich berührender Stimme singt.


©Sven Hagolani


Mehrmals wird die Strecke, die die Künstlerin durch eine angedeutete Landschaft aus Krücken gebauter Berge, projizierter Kartenreliefs und Kieselfelder hindurch zurücklegt, durch getanzte Momente unterbrochen. Fasziniert sehe ich zu, wie Cunningham als „vierbeiniges Wesen2“ den Schwerpunkt ihres Körpers von einem Fuß, einem prothetisch verlängerten Arm auf den anderen verlagert. Sie folgt dem so entstehenden Momentum, spielt mit unterschiedlichen Winkeln zwischen Gliedmaßen und Boden.

Solchen bewegten Etappen folgen meist Momente der Rast. Aus Krücken/Stöcken und Regenjacke ist schnell ein Zelt gebaut, unter dem die Performerin sich zur Ruhe legt. Wir im Publikum sollten uns, falls uns warm geworden sei, eine Schicht ausziehen. Ein alter Wandertrick, den ich mir zu Herzen nehme. Bei der nächsten Pause, in der sich Cunningham in den obersten Tribünenreihen selbst Kaffee einschenkt und an die Umsitzenden Shortbread nach Rezept ihrer Großmutter verteilt, traue ich mich sogar in einen mitgebrachten Apfel zu beißen.

Die Großmutter, erzählt Cunningham, habe wie sie das Singen gelernt und sei dann durch einen persönlichen Verlust für immer verstummt. Die wehmütigen Lieder des heutigen Abends hingegen verdanken wir vielleicht sogar maßgeblich Cunninghams Trauer um den verstorbenen Weggefährten Jess3, der wohl noch viel mehr für sie war, als derjenige, der sich vor den Proben immer um den Kaffee kümmerte. Ganz fein und doch klar artikuliert hat mich Songs of the Wayfarer dazu eingeladen, mir sowohl die Fragilität als auch die Resilienz eines jeden und nicht zuletzt meines eigenen Lebens ins Bewusstsein zu rufen.


1Disability Arts ist als künstlerisches Arbeitsfeld aus verschiedenen Behindertenrechtsbewegungen entstanden und vereint die Beschäftigung mit Fragen von Zugänglichkeit, Kritik an Ableismus, nicht nur in der Kunst, sowie Prozesse künstlerischen Schaffens, in denen die Erfahrung von Behinderung eine Rolle spielt.
2Zitat aus dem Programmheft. Viele von Claire Cunninghams Arbeiten basieren nach eigener Darstellung wesentlich auf dem Gebrauch bzw. Fehlgebrauch ihrer Krücken.
3Jess Curtis (1961-2024) war Tänzer, Choreograf und Aktivist. Gemeinsam entwickelten Curtis und Cunningham u.a. die international gefeierte Performance The Way You Look (At Me) Tonight (2016).


Songs of the Wayfarer von Claire Cunningham wurde im Rahmen des NO LIMITS FESTIVAL vom 14.-16.11.2024 im HAU Hebbel am Ufer (HAU2) aufgeführt.