Four New Works der Lucinda Childs Dance Company feierte im August 2024 beim Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel in Hamburg Premiere. Die Berliner Festspiele brachten die Choreografien am 7. und 8. Dezember 2024 noch einmal auf die Bühne.
64. 84.
Oh süße Nostalgie! Süß, denn sie lebt nur in der Erinnerung. Doch, was die Sehnsucht nach dem Gestern weckt, fasziniert damals wie heute. Beispielsweise Lucinda Childs, selbst lebende Legende, in ihrem Solo Geranium ’64 im Haus der Berliner Festspiele. Mit ihrem schlanken Körper und ihrer Größe wirkt die 84jährige so graziös, dass ich sie bei der Ouvertüre, als ich ihr Gesicht noch nicht sah, mit der hochgewachsenen und elegant meisterhaften Tänzerin Caitlin Scranton verwechselte, die ich zuvor im Duett Actus bewundert hatte.
62, 63, 64.
Childs war eines der ersten Mitglieder des Judson Dance Theater. Im New York der frühen 1960er Jahre zählten Trisha Brown, Yvonne Rainer und Steve Paxton zu den experimentellen Kunstschaffenden und Gruppen, die in der Judson Memorial Church ein Zuhause fanden. Sie widmeten ihre Kreativität und Leidenschaft dem Studium von Körper und Körperlichkeit und begründeten ein neues Genre des Tanzes, das wir heute als „postmodern dance“ bezeichnen. In den frühen 2010er Jahren lebte ich in NYC und spürte die starke Verehrung und Begeisterung für diese Bewegung in der Performance-Szene der Stadt. Ich erinnere noch gut die bis auf den letzten Platz gefüllte Judson Church, montagsabends bei den wöchentlichen Vorstellungen von Movement Research, gewissermaßen den Nachfahren des Judson Dance Theater.
16.
Meine New Yorker Freund*innen seufzten gern und klagten, wie anders die Stadt doch einst war, als sie sich noch wirklich Drehscheibe der Künste nennen durfte. Als ich 2016 nach Berlin ging, begleitete mich ihre ausgesprochen romantische Vorstellung von der deutschen Hauptstadt: Berlin, so hieß es, sei „wie Brooklyn vor der Gentrifizierung“. Es dauerte nicht lang, bis ich feststellte, dass Berliner*innen nicht weniger wehmütig der guten alten Zeit nachtrauerten, als Berlin noch echt war.
1, 2, 3, 4.
In einem Gespräch mit András Siebold, Künstlerischer Leiter des Internationalen Sommerfestivals Kampnagel, erwähnt Childs, dass ihre Tanzenden permanent zählen: „Die Tänzer*innen bleiben ständig im Rhythmus, auf eine sehr ausgefeilte Art, individuell und kollektiv“. Enorme Konzentration im Zusammenspiel mit virtuoser Physis und Präzision übersetzt als komplette choreografische Kontrolle. In Childs Werk Dance aus dem Jahr 1979 zählen die Tanzenden bis 256.
37, 38, 39, 40, letzte Woche 40 Prozent Mieterhöhung bei einer Freundin in Neukölln.
11, 12, 13, 14, wie viele Kunst- und Kultureinrichtungen werden nächstes Jahr aufgrund der drastischen Haushaltskürzungen in Berlin schließen müssen?
8, 9, 10, wie viele Zuschüsse werden für einzelne Kunstschaffende gestrichen werden?
177, 178, 179, 180, wie viele Kunstschaffende wurden als Konsequenz der massiven Einschränkung der Meinungsfreiheit in der Kunst seit dem vergangenen Herbst in Deutschland gecancelt?
201, 202, 203, wie lange werden wir noch den guten alten Jahren nachhängen, in denen Berlin eine Stadt der Vielfalt und künstlerischer Experimente war?
204, 205,
Ich zähle weiter, bis ich
206, 207, 208,
den kollektiven Rhythmus
209, 210,
in der Geschichte erspüre.
Übersetzung aus dem Englischen: Lilian Astrid Geese
Four New Works von Lucinda Childs Dance Company wurde am 7. und 8. Dezember 2024 bei den Berliner Festspiele präsentiert.